
Anja Thauer - Aufnahmen der 60er Jahre - Werke von R.Strauss, Reger, Schostakowitsch, Francaix
Deutsche Jacqueline du Pré
Label/Verlag: Hastedt
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Das Label Hastedt macht auf eine heute vergessene Cellistin aufmerksam: Anja Thauer. Ihr Spiel ist von glühender Leidenschaft. Die Bekanntschaft mit den Aufnahmen lohnt ohne Zweifel.
Der Name Anja Thauer sagt heute fast niemandem mehr etwas. Der Grund ist einfach: Die 1945 in Lübeck geborene Cellistin nahm sich bereits 1973 aus Liebeskummer das Leben, ehe sich ihre vielversprechende Karriere erfüllen konnte. Schon mit vierzehn Jahren wurde die junge Musikerin in die Meisterklasse Ludwig Hoelschers aufgenommen, ein Jahr später wechselte sie zu André Navarra nach Paris. Ein weiteres Jahr später konnte sie sich in einem internationalen Wettbewerb an die Spitze der Celloelite katapultieren. Thauers offenbar erste Schallplattenveröffentlichung 1962 enthielt das Cellokonzert von Eugen d’Albert, Schuberts ‚Arpeggione-Sonate‘ und das 'Mouvement perpétuel' aus den 'Six pièces' von Jean Françaix (Attacca). Unter anderem durch diese Produktion wurde die Deutsche Grammophon auf die junge Musikerin aufmerksam – es erschienen 1964 die auch auf dieser CD vorgelegte dritte Cellosuite Max Regers und die 'Fantaisie' für Violoncello und Klavier von Jean Françaix (mit dem Komponisten als Klavierpartner). Weder diese Einspielung noch die Ende März 1968 entstandene hochgepriesene Aufnahme von Dvoráks Cellokonzert h-Moll op. 104 mit der Tschechischen Philharmonie Prag unter Zdenek Mácal wurde in Deutschland je auf CD vorgelegt, obwohl die Musikerin vielfach mit der jungen Jacqueline du Pré (1945–1987) verglichen wurde.
Da ist es umso erfreulicher, dass die Hastedt Musikedition Bremen nun Produktionen von Radio Bremen aus den Jahren 1964 (Reger) und 1969 (alle anderen Werke) vorlegt, die das Bild der vergessenen Künstlerin geringfügig erweitern. Selten habe ich einen ähnlich blühenden, lodernden Ton von einem Cellisten gehört – ein direkter Vergleich mit Jacqueline du Pré (etwa in Dvoráks Cellokonzert, von du Pré 1970 in Chicago für EMI eingespielt) würde sicherlich hochinteressante Parallelen zu Tage bringen. Nicht dass ich diesen lodernden, leidenschaftlichen Tonfall bei allen Werken gleichermaßen schätzen würde, doch ist es ein ernstzunehmender Zugang, der bei manchen Werken absolut Wunder wirkt und heute zumeist nicht nur verpönt ist, sondern auch nicht beherrscht wird.
Die CD wird eröffnet mit der Sonate F-Dur op. 6 von Richard Strauss für Violoncello und Klavier, einem untypischen Werk des erst achtzehnjährigen Komponisten, das gleichwohl bei Musikern überproportionale Beliebtheit genießt (anders als die Sonaten von Reger oder Busoni oder Pfitzner etwa). Thauers Intensität zeigt sich bereits im ersten Takt der Sonate, ihr leidenschaftliches Spiel, das sich – ganz ähnlich wie Du Pré – ohne Netz und doppelten Boden ganz der Musik hingibt, findet gleichwohl keine vollgültige Entsprechung in Rudolf Macudzinskis Klavierpart. Dies mag auch ein Problem der Aufnahmetechnik sein: Das Cello ist durchgängig lauter ausgesteuert als der Flügel, bei Kammermusikeinspielungen leider ein Grund für Abstriche. Dabei erweist sich spätestens zu Beginn des 'Andante ma non troppo', dass Macudzinski, langjähriger Professor in Bratislava, nicht etwa ein zurückhaltendes, ‚akademisches‘ Spiel pflegte, sondern sich durchaus angemessen einbringen konnte.
In Max Regers Suite a-Moll op. 131c Nr. 3 für Violoncello allein nimmt Thauer den äußerst leidenschaftlichen Ansatz zurück und vertraut ganz auf Regers höchst eigene Musiksprache – in der Schallplattenaufnahme der Deutschen Grammophon mehr noch als in dem vorliegenden Rundfunkmitschnitt. Zusammen mit Emanuel Feuermann und Zara Nelsova gehörte Thauer zu den Pionieren der Reger-Cellosuiten auf Schallplatte, und Nelsovas und Thauers Einspielungen der zweiten bzw. dritten Suite haben bis heute Referenzstatus bewahrt. Im Bremer Rundfunkmitschnitt spielt Thauer deutlich freier als in der Deutschen Grammophon-Produktion, lässt sich stärker von ihrer jugendlichen Energie mitreißen und füllt Regers Suite mit berstender Leidenschaft.
In Dmitri Schostakowitschs Violoncellosonate d-Moll op. 40 aus dem Jahre 1934 wird die erfolgreiche Partnerschaft von Anja Thauer und Rudolf Macudzinski fortgesetzt (abermals mit dem etwas zu stark hervorgehobenen Cello). Schostakowitschs Sonate erlebt eine glutvolle Belebung, dass einem Schauer den Rücken herunterlaufen. Natürlich kann Thauer nicht ganz die Autorität Mstislav Rostropowitschs in die Waagschale werfen, der die Sonate zusammen mit dem Komponisten eingespielt hat und dem in England kein Geringerer als Benjamin Britten als Klavierpartner zur Verfügung stand; doch bleibt Thauers Einspielung durch die große Leidenschaftlichkeit und Energie ein beeindruckendes und überzeugendes Dokument, trotz ein paar unsauberer Pizzicati im Finale.
Jean Françaix’ fünfsätzige Fantasie für Violoncello von 1962 führt bis heute ein Schattendasein – die Originalfassung mit Orchester dirigiert der Komponist auf einer heute schon raren Arion-CD, die Klavierfassung mit Thauer und dem Komponisten von Deutsche Grammophon ist gar überhaupt nicht verfügbar. So füllt dieser Rundfunkmitschnitt eine schmerzliche Lücke. Die Klavierfassung ermöglicht im Vergleich zur Orchesterfassung schnellere Tempi, ein intimeres, pointierteres Zusammenspiel – und eben dies bieten die beiden Musiker hier. Thauer kann all ihre technischen Fertigkeiten präsentieren, und auch Macudzinski gewinnt hier an Präsenz. Dennoch mangelt es dem Rundfunkmitschnitt im Vergleich zur Schallplattenpremiere 1964 etwas an Brillanz und romanischer Eleganz.
Christoph Romanowski hat die Rundfunkbänder von Radio Bremen ausgezeichnet restauriert. Was natürlich nicht bewirken kann, dass eine neue Abmischung möglich gewesen wäre. Das Booklet enthält alle wichtigen Informationen, ist aber insgesamt doch etwas knapp geraten.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Anja Thauer - Aufnahmen der 60er Jahre: Werke von R.Strauss, Reger, Schostakowitsch, Francaix |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Hastedt 1 24.11.2010 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
4037218066029 HT 6602 |
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Fono Forum: "..."Doch wer diese Aufnahmen hört, wird sich fassungslos an den Kopf greifen und fragen, wie diese Vergessenheit zu begründen ist. Wie Thauer das Con brio im Kopfsatz der Strauss- Sonate umsetzt, wie burschikos und dynamisch höchst differenziert sie das Scherzo der Reger-Suite gestaltet, wie kompromisslos und rhythmisch stringent sie das Allegro bei Schostakowitsch nimmt, wie verspielt bei ihr das Scherzo von Francaix klingt - all das macht ihr Musizieren unverwechselbar..." (Fünf Sterne = höchste Wertung)" |
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Hastedt Wiederentdeckung einer Musiklandschaft - Vier Jahrzehnte Musik in der DDR. ACHTZEHN JAHRE - Hastedt - ACHTZEHN JAHRE <BR> Seit achtzehn Jahren stellt Hastedt wichtige KomponistInnen vor, die in der DDR gelebt und gearbeitet haben - mit exemplarischen Werken und in erstveröffentlichten Aufnahmen von Solisten/Orchestern aus der ehemaligen DDR. Aber auch KomponistInnen aus Berlin, Bremen, Brünn, Bukarest oder Glasgow finden Sie in unserem Programm. Interpretenporträts von herausragenden, doch weitgehend vergessenen Künstlern aus dem vorigen Jahrhundert vervollständigen unser Programm. Poldi Mildner (1913-2007), eine Pianistin aus der Liszt-Schule. Einen "Vulkan am Klavier" nannte Franziska Kottmann die einstündige Sendung über sie im DLF.<P> Branka Musulin (1917-1975), die Magierin am Klavier. FONO FORUM hat ihr und der Hastedt-CD eben (02/13)einen zweiseitigen Artikel gewidmet. Neu in 2014 erschien von ihr eine Doppel-CD mit ihren schönsten Plattenaufnahmen aus den 60ern (Ravel, Franck und Chopin-Konzerte), zusammen mit den Diabelli-Variationen von Beethoven.<P> Anja Thauer (1945-1973), die "deutsche Jacqueline du Pré", wie die Süddeutsche Zeitung sie nannte, ist mit bisher drei CDs vertreten, die alle begeisterte Kritiken ernteten. Anja Thauer war eine charismatische Musikerin, die leider viel zu früh starb. <P> Jenny Abel, Violine mit Roberto Szidon (1941-2011) am Klavier mit Brahms' dritter Sonate, Medtners 1. Sonate, der Violinsonate von Poulenc sowie zwei hinreißenden kleineren Werken von Messiaen und Rachmaninow werden in Rundfunkproduktionen der achziger Jahre vorgestellt. <P> Max Rostal (1905-1991), ein legendärer Geiger in der ersten Jahrhunderthälfte - und nach seiner Rückkehr aus dem Exil ein ganz wichtiger Lehrer für eine ganze Geiger"generation". An ihn wird in exemplarischen Kammermusik-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren erinnert. <P>
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