
Rihm, Wolfgang - Schrift-Um-Schrift
Kontrastierende Handschriften
Label/Verlag: Neos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Eine inspirierte Darbietung von Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug wird kombiniert mit der Ersteinspielung eines Werkes gleicher Besetzung von Wolfgang Rihm. Musiker und Aufnahmeleitung gelangen zu einem durchweg überzeugenden Ergebnis.
In einer neuen Aufnahme des Westdeutschen Rundfunks wird der Name einer bereits 1993 begonnenen und im Jahr 2007 vollendeten Komposition von Wolfgang Rihm als übergeordneter Titel verwendet: ‚Schrift-Um-Schrift‘. Zwar wird nicht recht deutlich, in welcher Beziehung dieser Titel zu Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von 1937 steht – die Werke divergieren extrem in ihrer ästhetischen Konzeption. Hinsichtlich der Besetzung und der systematischen Auslotung aller Möglichkeiten des verwendeten Klangkörpers gibt es jedoch viele Berührungspunkte, so dass es nachvollziehbar erscheint, die beiden Kompositionen gemeinsam auf eine SACD zu bannen. In jedem Fall verdient diese Einspielung eine Würdigung ihrer famosen Interpreten: das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher musiziert mit Franz Schindlbeck und Jan Schlichte, zwei Schlagzeugern der Berliner Philharmoniker. (Dass solch ambitionierte Produktionen durch Mittel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach wie vor ermöglicht werden können, nehme ich als Lichtblick innerhalb des angeschlagenen deutschen Musikbetriebs wahr.)
Weite Räume tun sich auf im 'Assai lento', der Einleitung von Bartóks wegweisender, den Konzertflügel in zuvor ungekannter Konsequenz als perkussives Instrument begreifender Sonate. Die mitreißende Steigerung, welche den ersten Satz mit einem kompromisslosen Trommel-Accelerando zum 'Allegro molto' führt, gelingt vorbildlich. Trotz der prinzipiellen Gleichberechtigung beider Pianisten erscheint der Part des ersten Klaviers anfangs dominant und ein wenig aggressiver. Den Tasteninstrumenten ist der Hauptanteil der thematischen Arbeit und damit die Bewältigung der akkurat strukturierten Sonatensatzform zugedacht – was nicht bedeutet, dass die stets präsenten Schlagzeuger in irgendeiner Form unterbelichtet wirken. Im Gegenteil: Viele architektonisch bedeutsame Passagen gewinnen gerade durch das vorbildliche Timing und den genau portionierten Einsatz der Perkussionsinstrumente an Konturen. Nicht weniger präzise zeigt sich das folgende 'Lento ma non troppo', eines der wunderbar atmosphärischen Charakterstücke, welche Bartók häufig in seine zyklischen Instrumentalwerke integrierte. Unwillkürlich entsinne ich mich ähnlicher Sphären im Mittelsatz des Ersten Klavierkonzerts oder im 'Notturno' aus der Klaviersuite 'Im Freien'. Das tonal eindeutige Finale wird spielfreudig dargeboten, wirkt aber doch kontrolliert und niemals überschwänglich; an diesem motorischen Höhepunkt der Komposition dürfte für mein Empfinden noch mehr Ausgelassenheit spürbar werden. Grandios glückt allerdings das Zusammenspiel von pointierten Klavierrhythmen und Pauken-Glissandi im Mittelteil des Satzes.
Detail und Verschmelzung, Punkte und Flächen
Neben Bartók steht dann etwas völlig Andersartiges. Ferne Röhrenglocken, dezent eingesetzte lateinamerikanische Percussion, sanfte Impulse von mysteriösen Gongs, Cluster-Staccati im Klavier – der Beginn von Rihms halbstündigem Quartett 'Schrift-Um-Schrift' für zwei Pianisten und zwei Schlagzeuger mutet an wie ein Kompendium des Schlagwerks. Verschiedenartigste, fast ausnahmslos kurze Klangereignisse werden nebeneinandergestellt, korrespondieren zunächst durch ihre zeitliche Trennung und später durch ihre dichte Abfolge; zeitweilige tonale Felder und vereinzelt eingefügte Zitate schaffen weitere Querverweise. Fragen nach einer logischen Abfolge der Klänge erübrigen sich: Die Musik wirkt spontan, aus dem Moment geboren und ist doch sorgfältig geformt. Dieses intuitive, stilistisch autonome Komponieren ist charakteristisch für Rihms schöpferische Haltung. In diesem Fall gelangt er zu einer nicht unterteilten, stetig in sich fortwirkenden Form, die sich syntaktischen Problemen nicht stellen muss, da sie sie nicht thematisiert. Dennoch begegnen mitunter auch repetitive, mit der punktuellen Schroffheit des Beginns kontrastierende Passagen, in denen die Instrumente nach dem Prinzip der additiven Synthese zu Kombinationsklängen verschmolzen werden.
In besonderer Weise überzeugt mich der Umgang der Aufnahmeleitung mit Nähe und Distanz, mit der spezifischen Wirkung kurzer oder andauernder, schnell oder langsam an- und abschwellender Klangereignisse, die im Stereo-Panorama halbkreisförmig angeordnet sind. Dies ermöglicht eine faszinierende Zuordnung von Klangfarbe, Tonqualität und Ereignisort – aufeinander folgende Klänge treten nicht nur in einen zeitlichen, sondern auch in einen räumlichen Dialog. Im Forte allerdings klingen die beiden scharf intonierten Flügel gelegentlich blechern; die Stimmung der beiden Instrumente ist, wie häufig bei Klavierduo-Besetzungen zu hören, nicht ganz schwebungsrein.
Das Booklet erweist sich als eher nüchterne Informationsquelle, wie überhaupt das Artwork der gesamten Veröffentlichung nicht gerade als opulent zu bezeichnen ist. Der Begleittext informiert über wesentliche Merkmale von Bartóks Komposition, bleibt aber bei Rihm verhältnismäßig vage. Gelegenheiten zur Nennung des reichhaltigen Instrumentariums sowie zur verwendeten Aufnahmetechnik bleiben ungenutzt. Ein weniger unterhaltender als wissenschaftlich-dokumentarischer Charakter haftet der Produktion an – dabei dürfte auch solch eine vermeintlich intellektuelle Musik gern in einem etwas ansprechenderem Gewand präsentiert werden.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Rihm, Wolfgang: Schrift-Um-Schrift |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Neos 1 01.08.2013 |
Medium:
EAN: |
SACD
4260063110320 |
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Neos NEOS das neue Label für Zeitgenössische Musik, das seit Mitte Mai 2007 auf dem deutschen, seit Oktober 2007 auch auf dem internationalen Markt präsent ist. Im Zentrum der Neuveröffentlichungen stehen Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts - die Betonung liegt dabei auf Welt-Ersteinspielungen. Mehr Info... |
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