
Gossec, Francois-Joseph - Werke für Bläser
Originale und ‚Fälschungen‘
Label/Verlag: Atma classique
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Interpretatorisch durchaus überzeugend gelingt diese Gossec-Aufnahme. Fraglich sind allerdings zahlreiche Arrangements.
Der Wallone François-Joseph Gossec (1734–1829) war ein äußerst erfolgreicher Komponist der ausgehenden französischen Monarchie und der Revolutionszeit. Früh trat er mit Kammer- und Orchestermusik an die Öffentlichkeit, gefolgt von Chor- und Bühnenkompositionen; seine Kompositionen der Revolutionszeit, fast alle für Chor und Bläser, sind äußerst zahlreich. Mit dem Aufstieg Napoleons endete Gossecs kompositorische Karriere nahezu – er verlegte seine ganzen Energien aufs Unterrichten vor allem am 1795 gegründeten Pariser Conservatoire und war u.a. Lehrer von Luigi Cherubini, Jean-François Le Sueur und Étienne-Nicolas Méhul.
Der CD-Titel „Aux Armes, Citoyens!“ ist irreführend – Gossecs Einrichtung der Marseillaise wird hier gar nicht dargeboten, sondern nur eine Transkription von Gossecs Einrichtung, original für Chor und großes Bläserorchester. Dies kann das Ensemble Les Jacobins unter der Leitung von Mathieu Lussier nicht bieten – handelt es sich bei der Gruppierung doch um ein Sextett von zwei Klarinetten, zwei Hörnern und zwei Fagotten. Gleichwohl ist das ausgewählte Repertoire, gerade was die Originalkompositionen angeht, ausgesprochen interessant. Eröffnet wird die CD mit 'La Grande Chasse de Chentilli', einer 1762–1770 für das Orchester des Prince de Condé in Chantilly entstandenen „Jagd-Sinfonie“ nach dem Geschmack der Mitte des 18. Jahrhunderts. Auch 'La bataille', eine Art kurze Schlachtensinfonie, die im Marschsatz Beethoven nicht fern steht, und eine 'Simphonie à 6' entstanden zur selben Zeit für dieselben Kräfte. 'Allegro' und 'Andante larghetto' ('La Chasse d’Hylas et Silvie') wurde der 1768 an der Pariser Comédie-Française uraufgeführten Pastoraloper 'Les agréments d’Hylas et Silvie' entnommen und ebenfalls für den Prince de Condé eingerichtet. Nicht genau zu datieren (wohl aus der Zeit 1764–1776 stammend) ist ein poetisch-evokatives Andante, das zu Händel zurückschaut und doch einen ganz typisch gallischen Klangcharakter trägt. Insgesamt handelt es sich um ganz typische Kompositionen der Zeit, voller Charme und Erfindungskraft. Doch für diese 30 Minuten und auch diesen nur sehr kleinen Bereich von Gossecs kompositorischer Laufbahn eine CD verschwenden? Das wäre nur etwas für ganz Hartgesottene, selbst wenn die Interpretation so vorbildlich ist wie hier. Die historischen Instrumente springen bestens an, haben deutlich mehr Klangfarben als moderne Pendants und bringen die Werke voller Charme und Eleganz zu Gehör. Balance und Abstimmung funktionieren sehr gut, durch ausgezeichnete Aufnahmequalität unterstützt.
Entsprechend wichtig sind Lussiers Bearbeitungen – sie versuchen die CD aufzuwerten und nehmen ganze 26 Minuten ein. Gleichwohl – hier scheitert Lussier, aus verschiedenen Gründen. Genauer betrachtet sind etwa die 'Quatre Hymnes à la liberté' faktisch gar nicht alles „Hymnes à la liberté“ – hier findet sich auch eine 'Marche réligieuse' (!) und die nicht aus der Revolutionszeit stammende a cappella-Motette 'O salutaris hostia'; hier überlistet sich Lussier also offensichtlich selbst und vor allem den Hörer; sein Argument, auch Gossec habe eine (heute verschollene) Bearbeitung des Satzes für drei Hörner erstellt, macht deutlich, dass Lussier nicht etwa diese nachzuschaffen versucht (für drei Hörner nämlich, da er nur zwei hat), sondern einfach etwas Anderes ausprobiert. Ohne Frage ist anzuerkennen, dass seine Arrangements gut gemacht sind – ob stilsicher, konnte ich nur im Falle der 'Hymne à la statue de la liberté' von 1793 überprüfen: Nein, stilsicher kann man diese Arrangements nicht nennen – Gossec hat für Chor und großes Orchester komponiert, die Reduktion auf sechs Holzbläser und die Weglassung des Textes nimmt den Kompositionen ihren eigentlichen Sinn. Dies trifft auf alle Bearbeitungen Lussiers zu, so stimmungsvoll sie insgesamt sein mögen, etwa der 'Chant funèbre sur la mort de Féraud' von 1794 für Solo, Männerchor und Blasorchester. Gossecs Bearbeitung der Marseillaise von 1793 hätte ich gerne einmal gehört – aber wenn eine Bearbeitung der Marseillaise für Chor und Orchester eingespielt wird, dann häufig jene von Hector Berlioz; Lussiers Bearbeitung ist nur ein schwacher Ersatz. Am problematischsten erscheint dem Rezensenten die 'Suite d’airs révolutionnaires'. Hat Gossec sie zusammengestellt, und wenn ja wann (The New Grove Dictionary of Music and Musicians kennt keine solche Suite)? Oder ist es eine Zusammenstellung von Lussier? Aber warum überhaupt sie aufnehmen – nur der Schlusssatz, 'Marche Victorieuse', stammt von Gossec und gehört so als einziges auf die CD; doch auch er ist von Lussier bearbeitet und nicht in seiner Originalform zu hören. Was helfen einem da die besten historischen Instrumente, wenn man die Werke nur in verfremdeter Form zu hören bekommt?
Leider ist auch das CD-Booklet (nur auf Französisch und Englisch) nur von beschränktem Informationswert – der Autor (Mathieu Lussier) beschränkt sich auf eine nicht speziell auf die hier vorliegenden Werke ausgerichteten Biografie; in einem Absatz handelt er die Originalkompositionen listenartig ab, ohne Entstehungsdaten oder Aufführungs- oder Veröffentlichungsumstände zu nennen. Wichtiger ist ihm die Rechtfertigung seiner Bearbeitungen, die als Aufwertungen der CD zu schätzen sind, aber ohne musikhistorischen Wert. Auf der Außenhülle der CD erfährt man nicht einmal, dass es sich um keine Originalwerke handelt. Schade, dass Atma sich die Chance, es besser zu machen, hat entgehen lassen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Gossec, Francois-Joseph: Werke für Bläser |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Atma classique 1 21.01.2010 |
Medium:
EAN: |
CD
722056259521 |
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Atma classique Das Label ATMA - Seele oder Lebensgeist auf Sanskrit - wurde 1995 gegründet und bietet inzwischen mehr als 200 Aufnahmen von mittelalterlicher bis zu zeitgenössischer Musik mit einem besonderen Schwerpunkt im Barock. Für ihre Aufnahmen umgibt sich Johanne Goyette, Direktorin und zugleich Toningenieurin der Firma, gerne mit wagemutigen Künstlern, um in ihrem Studio Unerhörtes (und Ungehörtes) zu schaffen.
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