
Seidl, Hannes - Musik für übers Sofa
Kunst und Alltag
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Hannes Seidl präsentiert mit seiner 'Musik für übers Sofa' in der ‚Edition zeitgenössische Musik’ des Deutschen Musikrats einen anregenden Entwurf zur Gestaltung unserer alltäglichen Lebenswelt.
‚Musik für übers Sofa’: der Titel dieser dem Komponisten Hannes Seidl (* 1977) gewidmeten Porträt-CD, erschienen in der vom Deutschen Musikrat herausgegebenen ‚Edition zeitgenössische Musik’ beim Label Wergo, ist durchaus programmatisch zu verstehen. Nicht von ungefähr stellt sich dabei der Gedanke an Erik Saties provozierenden Entwurf einer ‚Musique d’ameublement’ (1919) ein, die – als Gegenentwurf zur bürgerlichen Musik des Konzertsaals – wie ein Ausstattungsstück zu einem funktionalen Bestandteil des Alltags werden sollte. Doch Seidl folgt, pointiert gesagt, einem weiterreichenden ästhetischen Konzept: Denn er will seine Kunst nicht etwa (wie dies heute allerorten via MP3-Player geschieht) als undifferenzierte Hintergrundbeschallung für den öffentlichen und privaten Raum verstanden wissen, sondern möchte sie – gleichsam als besondere Qualität gegenwärtigen Lebens – in jenem Alltag lokalisieren, aus dem sie zugleich auch ihre künstlerischen Impulse bezieht. Gedacht, um zu Hause gehört zu werden, verweben sich in den hier zu hörenden Kompositionen Alltagsgeräusche mit Kunstmusik, wird das Komponierte im Spannungsfeld zwischen komplexer Klangerkundung und alltäglichen Klangerlebnissen angesiedelt.
Die einzelnen Kompositionen – ‚Was mich angeht’ für vier Tenorposaunen (2008), ‚The Art of Home Entertainment’ für Violine, Tenorsaxophon, Klavier, Schlagzeug und Zuspielungen (2006), das im Zentrum stehende Hörstück ‚Zimmerrauschen’ für Kontrabassklarinette in verschiedenen Mikrofonierungen und Umweltklänge (2009) und die Stücke ‚Die Anderen – Jetzt Neu!’ für Klavier und Zuspielungen (2003) und ‚Leihgabe’ für Violoncello und Mischpultspieler (2007) – leben geradezu von solchem Beziehungsreichtum, der auf unterschiedlichste Weise manifest wird: Seidl verquickt Pistolenschüsse im Klavierkorpus, vorbeifahrende Autos, kurze Haydn-Zitate, Unterhaltungsmusik aus dem Nebenzimmer, aus extremer Ferne mikrofonierte Kontrabassklarinettenklänge und Umgebungsgeräuschen und schafft dadurch eine Verankerung seiner Musik im mehr oder minder profanen Alltag, ohne dass dies aufdringlich wirkt. Zentral ist dabei der Gedanke, dass die CD als Kunstwerk Eigenständigkeit beansprucht und dass sie nicht etwa – wie dies die üblichen Einspielungen aus dem Klassiksektor tun – ein Konzert simuliert oder das getreue Abbild eines Werkes vorgaukelt.
Ganz im Gegenteil: Die vielfältigen Möglichkeiten heutiger Produktionstechnik (etwa Wiederholungen, Lautstärkesprünge und Mikrofonwechsel) werden ausgiebig dazu benutzt, um die Hörsituation zu Hause mit der dazugehörigen urbanen Klanggrundierung – einer Schicht aus Autos, Geschrei, Popmusik, kurz: den Einbrüchen des Realen in die Welt der Kunst – zu thematisieren und zu verarbeiten. Auf diese Weise hat Seidl, unter tatkräftiger Mithilfe hervorragender Musikerinnen und Musiker – dem Composers Slide Quartet, dem ensemble intégrales, Theo Habicht (Klarinette), Sebastian Berweck (Klavier), Andreas Lindenbaum (Violoncello) und Christoph Franke (Elektronik) –, ein außerordentlich spannend konzipiertes Album voller Brüche, Unschärfen und Herausforderungen vorgelegt, das sich durch den Versuch einer Rückbindung an die Realität den gegenwärtigen Veränderungen unserer Wahrnehmung stellt. Die ’Musik für übers Sofa’ zielt damit auf eine Kunst, deren Legitimation nicht aus einer realitätsfernen Vorstellung von Erhabenheit erwächst, sondern sich gerade durch ihre Verwurzelung im Alltag behaupten möchte. Dem aufmerksamen Zuhörer bietet dies viele Überraschungen und setzt ihn anregenden Klangsituationen aus – so dass er letzten Endes vielleicht auch seine Umwelt aufmerksamer wahrnehmen wird.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Seidl, Hannes: Musik für übers Sofa |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
WERGO 1 01.09.2009 |
Medium:
EAN: |
CD
4010228657425 |
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WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
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