
Mahler, Gustav - Sinfonie Nr. 9
Wunderschöne Abschiedsironie
Label/Verlag: Tudor
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Nott und die Bamberger Symphoniker treffen den Nerv von Mahlers Musik, ihre immanente Widersprüchlichkeit, nahezu perfekt.
Jonathan Notts laufender Gesamteinspielungszyklus der Sinfonien Gustav Mahlers hat bei der Kritik bislang sehr positive Reaktionen hervorgerufen. Und auch der neueste Wurf des Engländers mit den Bamberger Symphonikern, denen er seit 2000 als Chefdirigent vorsteht, kann sich hören lassen. Im Grunde kann man dem schweizerischen Label Tudor, bei dem die einzelnen Teile des Zyklus’ im SACD-Format erscheinen, nur gratulieren, da es sich um ganz ausgezeichnete Interpretationen handelt, vielleicht sogar um die interessanten und spannendsten Mahler-Aufnahmen in der letzten Zeit. Was aber genau ist es, das aktuell an der Darbietung der Neunten Sinfonie, diesem komponierten Abschied vom Leben in vier Sätzen so überzeugt und begeistert?
In der Hauptsache ist es wohl die Art und Weise, in der hier die spezifischen Eigenschaften der Mahlerschen Sinfonik ganz unmittelbar herausgestellt werden. Dabei handelt es sich um die typische Zerrissenheit dieser Musik, um ihre Doppelbödigkeit, die krasse Ironie, die sogar während der allerschönsten Stellen, wie dem Streichergesang, der das 'Adagio’ eröffnet, stets vorhanden ist, das Umschlagen der zartesten Idylle ins Fratzenhafte, wie es sich besonders in den beiden Mittelsätzen beobachten lässt. Nott und die Bamberger treffen diesen Nerv der Musik, ihre immanente Widersprüchlichkeit, nahezu perfekt. Anders als bei Bruckner, wo die musikalische Formenwelt quasi noch in Ordnung ist, steht hier alles in Anführungszeichen, und gerade in diesem seltsamen Spiel liegt der Reiz, wenn die Interpreten sich darauf einlassen, und nicht, wie es ja aktuell bei Valery Gergiev und dem London Symphony Orchestra der Fall zu sein scheint, Mahler mit falschem Ernst zelebrieren.
Vergleicht man Notts Lesart von Mahlers Neunter etwa mit der von Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin aus dem Jahr 2006, so fällt schon gleich zu Anfang der Sinfonie auf, mit welchem Detailsinn und welcher Stringenz bei den Bambergern ein Takt auf den anderen folgt, und das obwohl der Beginn des 'Andante comodo’ wegen seiner Fragmentarik sehr schwer auszuführen ist. Im Verhältnis zu Barenboim, der die Tempi insgesamt überstürzt – er braucht gegenüber Notts 83 Minuten gerade mal 77 – gebraucht der 1963 Geborene auch nie das Hilfsmittel dramatischer Überzeichnung. Natürlich werden die vielen Steigerungen bei Nott als solche ausgeführt, aber sie stehen hier nie als Selbstzweck da, sondern werden zueinander ins Verhältnis gebracht. Überhaupt liegt darin vielleicht der größte Vorzug dieser Einspielung, dass Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sich gegenseitig beleuchten und erklären. Oder wie Eliahu Inbal einmal über Mahlers Musik gesagt hat: ‚Aufs Kleine betrachtet handelt es sich um Brüchigkeit, Inhomogenität, aufs Ganze gesehen ist genau dies das tragende, formbildende Element’.
Von diesen eher abstrakten Aspekten abgesehen, sei das brillante Klangbild der Aufnahme hervorgehoben, in dem selbst ein dreifaches Piano noch deutlich vernehmbar bleibt. Die Bamberger Symphoniker mögen nicht den alleropulentesten Orchesterklang haben, technisch makellos und vor allem musikalisch intelligent ist es allemal, was sie zu bieten haben. Die einzelnen Soli kommen ebenso klar wie sensibel, und auch mit dem differenzierten Tuttiklang kann man mehr als gut leben. Um es mit einem Kollegen zu sagen, der Mahlers Vierte mit Nott und den Bambergern besprochen hat: Wenn ich mich für eine einzige Einspielung von Mahlers Neunter entscheiden müsste – ich würde Jonathan Nott nehmen.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Mahler, Gustav: Sinfonie Nr. 9 |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Tudor 2 15.08.2009 |
Medium:
EAN: |
SACD
0812973011620 |
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