
Pesson, Gérard - Werke für Ensemble, Klavier & Orchester
Musik mit Wunderblock
Label/Verlag: aeon
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Gérard Pesson ist ein Meister der musikalischen Anspielungen und des subtilen Klanges. Eine Portrait-CD mit hervorragenden Aufnahmen macht das deutlich.
Mit einem Wunderblock versuchte Sigmund Freud einst, die verschiedenen Ebenen des Gedächtnisses zu verdeutlichen. Die kleine Tafel, auf der man schreiben, und das Geschriebene sofort wieder löschen kann, trägt ganz unsichtbar alles ihr Mitgeteilte in der untersten Wachsschicht in sich. ‚Er ist in unbegrenzter Weise aufnahmefähig für immer neue Wahrnehmungen und schafft doch dauerhafte – wenn auch nicht unveränderliche – Erinnerungsspuren von ihnen.’
Wie ein klingender Wunderblock trägt die Musik Gérard Pesson eine Vielzahl musikalischer Stimulanzien mit sich. ‚Objets trouvés’, musikalische Fetische, Fundstücke bilden einen Referenzkatalog, der im zeitgenössischen Musikschaffen einzigartig ist. Gérard Pessons Musik zeichnet sich durch ein engmaschig geknüpftes Netz kultureller Bezüge aus, ein Netz, in dem immer wieder Bruchstücke von vermeintlich Vertrautem hängenbleiben und ihre Materie neu offenbaren. Eine Portrait-CD seines Schaffens ist bei aeon erschienen.
Gérard Pesson ist ein Komponist, der in seinen Werken mit dem Bewusstsein spielt, mit der Erinnerung des Hörers, und dieses Hören ganz konkret in seine musikalischen Texturen mit einbezieht. ‘Rescousse (marginalia)’ für Ensemble besteht aus neunzehn ineinander übergehenden Sequenzen, denen bestimmte Kontexte zugeordnet sind, flüchtige Gedanken, die am Rande eines kompositorischen Prozesses entstehen. Die Liste ist lang, sie reicht von literarischen Bezügen über außereuropäische Rhythmusmodelle bis hin zu musikalischen Vorbildern wie Bruckner, Lachenmann oder Nancarrow. Oft bewegt sich die Musik dabei am Rande der Hörgrenze mit ihren Wisch- und Schabgeräuschen, und das alles in einem rasanten Tempo.
Auch in ‘Aggravations et final’ für Orchester arbeitet Pesson mit der Geschwindigkeit als Stilmittel, eine Schwindel erregende Geschwindigkeit, die aber in ihren loopähnlichen Wiederholungen gleichzeitig ein Meta-Tempo des Stillstands erzeugt. Pesson jongliert virtuos mit orchestraler Charakteristik und zeigt das Klischee als solches. Den Verführungen, die der traditionelle Orchesterapparat mit sich bringt, widersteht er, in denen er ihnen nachgibt – er dekonstruiert, dehydriert das Material, um es immer wieder skelettiert kurz aufflackern zu lassen.
Noch stärker wird dieses Arbeitsprinzip in seinem Werk für Akkordeon und Orchester ‘Wunderblock – Nebenstück II’ deutlich. ‘Versuch einer Ausradierung des Maestoso aus Anton Bruckners Sechster Sinfonie’ ist das Werk untertitelt, und tatsächlich hat Pesson sich den Satz aus Bruckners Sinfonie als Formschema vorgegeben, Takt für Takt, und das Werk wie auf einem Wunderblock überschrieben und ausradiert. So bleiben unterbewusst immer die Brucknersche Form und ein Hauch der typischen Orchestrierung übrig, über dem sich zum einen die spielerischen Klänge von Gläsern, Celesta, Glockenspiel und Kinderklavier, zum anderen aber auch die Brucknersche Erhabenheit und Transzendenz entfalten.
Zwei kammermusikalische Werke ergänzen diese Sammlung: Drei Vexierbilder für Klavier, die von ferne an die Klavierwerke Debussys oder Ravels erinnern, und eine Cassation für Streichtrio, Klarinette und Klavier. Die Cassation ist eine divertimentoähnliche Form der Klassik, doch Pesson schreibt hier keine hübsche Serenade, sondern überträgt assoziativ Gesten in seine heutige Sprache, begonnen bei dem gitarrenartigen Spiel der Streichinstrumente bis zum erwürgten Gesang der Klarinette. Und auch der Musikgeschichte wird Reverenz erwiesen mit einem Form bildenden Akkord aus einem Serenaden-Essay Richard Wagners.
Für die Aufnahme, die in Koproduktion mit dem Westdeutschen Rundfunk entstanden ist, konnten Interpreten auf höchstem Niveau gefunden werden: Das WDR Sinfonieorchester Köln und Gérard Pesson sind gewissermaßen alte Bekannte, und so können Johannes Kalitzke und Lucas Vis Interpretationen von höchster Präzision und subtilem Klangsinn erzielen. Für die anderen Werke zeichnen die Mitglieder des Ensemble Modern verantwortlich, vom stoisch-virtuosen Klavierspiel Hermann Kretschmars bis zum gestochen scharfen Ensemblestück unter der Leitung von Brad Lubman. So bietet diese Zusammenstellung mit Referenzcharakter einen hervorragenden Einblick in das Schaffen Pessons.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Pesson, Gérard: Werke für Ensemble, Klavier & Orchester |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
aeon 1 01.05.2009 |
Medium:
EAN: |
CD
3760058368763 |
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aeon Äon bedeutet im Altgriechischen soviel wie Zeitalter bzw. Ewigkeit. Wenngleich letztendlich keine Aufnahme für die Ewigkeit sein kann, so kann sie doch zumindest Gültigkeit für ein Zeitalter oder Menschenalter beanspruchen. Diesem nicht geringen Anspruch versucht man bei AEON mit bereits fast hundert Titeln gerecht zu werden. Für seine Einlösung spricht, dass das Label seit seiner Gründung 2001 schnell zu einer der ersten Adressen aus Frankreich wurde. Den Labelgründern Damien und Kaisa Pousset ist es wichtig, einen Katalog zu schaffen, dessen einzelne Titel jeweils als ultimative Intention der beteiligten Musiker verstanden werden können. Künstler wie Alexandre Tharaud, Andreas Staier, Felicity Lott oder das Quatuor Ysaÿe haben hier Aufnahmen vorgelegt, die woanders so sicherlich nicht möglich gewesen wären. Der Katalog von AEON umfasst im Wesentlichen drei Hauptschwerpunkte: monographische CDs mit Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, dann das breitere, klassische Repertoire, das durch ausgewählte Künstler und Ensembles bestritten wird, sowie die frühe Musik des Mittelalters. Mehr Info... |
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