
Marino Formenti spielt - Klavierwerke von Kurtág, J. S. Bach, Schumann, Stockhausen u.a
Kompositorische Archäologie
Label/Verlag: Kairos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
György Kurtágs und Marino Formentis Denken über den Verlauf, den Stand und den künftigen Weg der Musikgeschichte verläuft in ähnlichen Bahnen. Formentis 'Kurtág’s Ghosts' bereichert die Erfahrung von der frühen Mehrstimmigkeit bis zur Gegenwart.
Vielleicht wird man György Kurtág einmal als einen der größten Komponisten unserer Zeit in Erinnerung behalten. Spät entdeckt gilt der Ungar erst seit den 1980er Jahren als wesentlicher Vertreter der Neuen Musik. Nur Luigi Nono hat indes nach 1945 eine derart überzeugende Trauermusik geschrieben. Kurtágs Werk ist hermetisch, überschaubar und gleichzeitig großartig in seiner anrührenden, stets sensiblen Kraft, die eine Einfühlung unmittelbar erfahrbar macht. In vielerlei Hinsicht ist Kurtág, trotz aller Popularität, die ihm mittlerweile zu Teil wurde, dennoch ein Außenseiter geblieben. Er hat keine Schule begründet und nie Komposition unterrichtet. Als Lehrer galt sein Interesse ausschließlich der Kammermusik, sowie der Analyse fremder Werke. Der Stil seiner Miniaturen steht in der Tradition der großen ungarischen Akademie, ist in seiner Strenge von Bartók her zu erschließen und in seiner Radikalität der Pariser Webernrezeption (Messiaen, Boulez, Stockhausen) verpflichtet. Als Begründer der immanenten Widmungskomposition hat er zahlreiche andere Komponisten schon jetzt entscheidend geprägt und den passenden Ausdruck für das ‚beschädigte Leben’ (Adorno) in der musikalischen Miniatur gefunden. Kurtágs Werk ist nicht Spiegel und Antwort auf unseren Zeitgeist, sondern auf seine Trümmer und Ruinen in einer langen abendländischen Kulturgeschichte.
Marino Formenti hat nun in einer zweiteiligen Einspielung für Kairos diesen Weg Kurtágs nachgezeichnet. György Kurtág hatte in seinen pianistischen Konzerten mit seiner Frau Martha stets den hohen, intertextuellen Wert der ‚Programme’ betont, die eigenes Material wie selbstverständlich neben Werke von Machaut, Bach, Schumann oder Boulez setzen. Formenti hat für seine Einspielung 'Kurtag’s Ghosts’ ein ähnliches Konzept entworfen. Das Programm liest sich wie der Index einer Musikgeschichte: Machaut, Bach, Scarlatti, Haydn, Schubert, Bartók, Messiaen, Stockhausen bis Ligeti werden collagenartig aneinander gereiht und treten in Interaktion.
Formenti hat eine faszinierende Auswahl getroffen. Die meisten Stücke überschreiten nicht einmal die Minutengrenze, und so ergibt sich ein klangliches Gesamtbild, das immer wieder im Nukleus des kompositorischen Gedankens auf zeitübergreifende Parallelen aufmerksam macht. Ähnlich wie vor ihm Kurtág hat der italienische Pianist bereits in seiner Auswahl das Feld bereitet für kulturelle Brüche, historische Bezüge, musikimmanente Traditionslinien oder semantische Universalismen. Die Hauptthese ist dabei seit Schönberg bekannt: ‚Ich bin konservativ, ich bewahre den Fortschritt.’ Doch was ist nun das Fortschrittliche, das Einzigartige, das neu Erscheinende an Kurtág? – Es liegt hörbar im Musiksemantischen einer Reflexion über die Geschichte seiner eigenen Kultur – der großen klassischen Tradition, der Schlüsselfigur Bachs, der Alten Musik, der ungarischen Schule (Liszt, Bartók, Kodaly, Ligeti) und der Darmstädter Avantgarde, als letzter historischer Bastion, die Kurtág noch rezipiert hat. Kurtágs Reaktion auf die Geschichte der Neuen Musik ist damit in vielerlei Hinsicht faszinierend. Er komponiert nicht weiter, differenziert nicht das Material oder sucht nach neuen Möglichkeiten der Klangerzeugung, sondern wird sich einem Ende des Materialstandes bewusst. Die Konsequenz ist ein subtiles Kommentieren, Ausdeuten und Beleuchten des musikalischen Materials – hier im emphatischen Sinne nicht des konkreten, sondern bereits gebildeten und geformten historischen Musikgedächtnisses. György Kurtág komponiert, wie Giorgio Agamben philosophiert. Giorgios philosophische Archäologie ist Györgys kompositorischem Umgang mit der Historie äquivalent. Beiden wohnt ein aphoristischer Gestus der Trauerarbeit inne.
Marino Formentis Denken über den Verlauf, den Stand und den künftigen Weg der Musikgeschichte verläuft in ähnlichen Bahnen. Diesem außergewöhnlichen, weil seltenen Glücksfall des Zusammentreffens zweier so kongenialer Künstler sollte man sich nicht entgehen lassen. Formentis 'Kurtág’s Ghosts’ bereichert die musikalische Erfahrung von der frühen Mehrstimmigkeit bis zur Gegenwart.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Marino Formenti spielt: Klavierwerke von Kurtág, J. S. Bach, Schumann, Stockhausen u.a |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: |
Kairos 2 17.04.2009 103:38 2008 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
9120010281471 KAI 0012902 |
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