
Brahms, Johannes - Klavierstücke op. 116-119
Brahms' späte Klavierstücke - vital und feinst schattiert
Label/Verlag: Berlin Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Anna Gourari gelingt mit ihrer Brahms-Einspielung eine in jeglicher Hinsicht herausragende Aufnahme, die den Stücken ganz neue Perspektiven verleiht.
Johannes Brahms‘ späte Klavierwerke, d.h. die Opera 116–119, werden nicht selten mit jenen Aspekten assoziiert, die als Kennzeichen eines „Spätwerks“ gelten: kompositorische Vollendung, Hinwendung zur gestalterischen Transzendenz statt praller musikalischer Lebensfreude, Gestus des (musikalischen) Abschieds. Diese verbal-interpretatorischen Zuschreibungen stehen dann freilich in Rückwirkung auf die musikalisch-interpretatorische Ausführung; es ergibt sich eine sich wiederholende Rückkopplung, ein hermeneutischer Zirkel, dessen ausführender Teil, die musikalische Interpretation, vor dem Hintergrund der inhaltlichen Zuschreibungen eine klare, oft ähnliche Gestalt annimmt. So klingen die so genannten späten Klavierwerke von Johannes Brahms oft schon ein wenig jenseitig, wirken, gespielt in einem zurückgenommenen Tempo, wie Gesten des Abschieds: musikalisch hoch komplex, aber in der grundlegenden Stimmung elegisch-dunkel.
Die russische, seit Jahren in Deutschland lebende Pianistin Anna Gourari nimmt sich auf ihrer jüngsten CD genau dieser Werke an. Und man traut seinen Ohren kaum: Sie findet in Brahmsens opp. 116–119 eine Vielfalt der Stimmungen und Charaktere, die man anderswo oft vergeblich sucht. Die Klaviervirtuosin Anna Gourari betont in den späten Klavierwerken die Extreme, die scharf gezeichneten Charaktergegensätze und gleichzeitig widmet sie sich jedem kleinen Detail mit staunenswerter pianistischer Feinfühligkeit. Das macht diese Aufnahme zu einer wirklich herausragenden – nicht nur, weil sie sich gegenüber der Klavierkonkurrenz so wunderbar facettenreich ausnimmt, sondern aufgrund der vielen Qualitäten in Gouraris interpretatorischer Gestaltung.
So kommt etwa das d-Moll-Capriccio op. 116 Nr. 1 ganz unerwartet kraftvoll daher, geradezu keck. In diesem Eingangssatz zeigt sich, wie Anna Gourari die schnellen Sätze anlegen wird. Mit fast trocken-kräftigem Anschlag betont sie die lebhafte Leidenschaftlichkeit, die da aus Brahms‘ Klavierstücken spricht, während andere Pianisten dem alten Brahms so viel Energie gar nicht mehr zutrauen (und auch solche Sätze daher keineswegs so drängend nehmen). Doch auch in diesen viril-zupackenden Sätzen finden sich zarte Inseln, die von der Pianistin mit subtilem Anschlag abgehoben werden. Dabei gelingt es Anna Gourari auf überzeugende, mitreißende Weise, den vielschichtigen Klaviersatz von Brahms so glasklar vor dem Hörer auszubreiten wie auch die emotionale Kraft erlebbar werden lassen.
Das schafft sie zum einen, indem sie manche Melodienote dem Bass „nachklappen“ lässt, wodurch die Melodielinien wunderbar sanglich erscheinen. Anna Gourari scheint über jenen „Tenordaumen“ zu verfügen, den Brahms angelegentlich zum Staunen seiner Zuhörer vorführte, wenn er Melodien in der Tenorlage subtil aus dem dichten Klaviersatz heraustreten ließ. Auch die Pianistin Anna Gourari darf sich eines solchen Daumens rühmen, denn auch ihre melodischen Linien wirken frappierend zusammenhängend und vom Klangkontext subtil herausgehoben.
Wohl am meisten zu loben allerdings ist Anna Gouraris Anschlagstechnik, die ihr die Möglichkeit gibt, nicht nur die unglaublich zahlreichen harmonischen Überraschungen zart einzufärben, sondern auch den Klaviersatz in seiner ganzen Reichhaltigkeit in feinsten Schattierungen zu präsentieren. Ohne auf klangliche Fülle zu setzen, pflegt Anna Gourari stellenweise einen hölzern-warmen Klavierklang, der viel mehr an einen Flügel der Brahms-Zeit denken lässt (etwa op. 119 Nr. 1). Besonders die trocken-präzise Handhabung der Bassregion scheint von den Klangeigenschaften der frühen Flügel (für die Brahms komponierte) beeinflusst zu sein. Besonders in den lyrischen, langsamen Sätzen gelingt Anna Gourari ein von subtilen Nuancen in Farbe und Dynamik geprägtes pianistisches Klangpanorama, das von der künstlerischen Reife und technischen Meisterschaft der Pianistin Zeugnis ablegt. Gleichzeitig wird in Gouraris klanglicher Darstellung offenbar, wie avanciert Brahms‘ späte Klavierstücke angelegt sind, wie modern, in die Zukunft weisend die Harmonik gestaltet ist (etwa op. 116 Nr. 5, op. 117 Nr. 2, op. 118 Nr. 6). Insofern bleibt die Pianistin dem Hörer nichts schuldig: Die Extreme in den Charakteren der Stücke ebenso wenig wie die interpretatorische Feinzeichnung mit subtilen Schattierungen. Und letztere werden, auch das erstaunt, sogar offenbar, obwohl die Klangtechnik den Hörer nicht zu nahe ans Klavier heran zoomt, sondern auf eine natürliche Klangentfaltung setzt.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Brahms, Johannes: Klavierstücke op. 116-119 |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: |
Berlin Classics 1 17.04.2009 79:07 2009 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
782124164720 0016472BC |
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"Anna Gourari spielt die späten Klavierstücke von Johannes Brahms - diese Neuaufnahme ist von vielen mit Spannung erwartet worden und ist zugleich das Debüt der russischen Pianistin auf dem Label Berlin Classics. Lagen die Schwerpunkte bislang im russischen und modernen Repertoire, wird ihre Beschäftigung mit dieser alles andere als gewöhnlichen Musik sicher einiges an Aufsehen erregen. Johannes Brahms hatte sich zu Beginn der 1890er Jahre bereits allmählich vom Komponieren verabschiedet, doch abseits hochfliegender Pläne oder Aufträge fand er wieder Freiheit, Zeit und Muße, noch einige wenige, dafür um so persönlichere und kostbarere Werke zu schaffen. Für die Klavierstücke op. 116-119 gilt dies ganz besonders, und Anna Gourari vermag die intensiven emotionalen und strukturellen Besonderheiten dieses Mikrokosmos in berührender Weise zur Einheit zu bringen. Gelobt für ihr „fast mystisches Klavierspiel“ ist ihr äußerliche virtuose Glasur fremd, vielmehr verhilft sie auch den intimen, fast kargen Momenten zu einem stillen, jedoch intensiven Blühen." |
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Berlin Classics Berlin Classics (BC) ist das Klassik-Label der Edel Germany GmbH. Es ist das Forum für zahlreiche bedeutende historische Aufnahmen, wichtige Beiträge der musikalischen Zentren Leipzig, Dresden und Berlin sowie maßgebliche Neuproduktionen mit etablierten und aufstrebenden jungen Klassik-Künstlern. Dazu zählen etablierte Stars, wie z.B. die Klarinettistin Sharon Kam, die Pianisten Ragna Schirmer, Sebastian Knauer, Matthias Kirschnereit, Anna Gourari und Lars Vogt, die Sopranistin Christiane Karg oder auch die Ensembles Concerto Köln, Pera Ensemble, sowie der Dresdner Kreuzchor und das Vocal Concert Dresden. Mehrfach wurden Produktionen mit einem Echo-Preis ausgezeichnet. Im Katalog von Berlin Classics befinden sich Aufnahmen mit Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Kurt Sanderling, Franz Konwitschny, Hermann Abendroth, Günther Ramin, Peter Schreier, Ludwig Güttler, Dietrich Fischer-Dieskau, die Staatskapellen Dresden und Berlin, das Gewandhausorchester Leipzig, die Dresdner Philharmonie, die Rundfunkchöre Leipzig und Berlin, der Dresdner Kreuzchor und der Thomanerchor Leipzig. Sukzesssive wird dieses historische Repertoire für den interessierten Hörer auf CD wieder zugänglich gemacht, wobei die künstlerisch hochrangigen Analogaufnamen mit größter Sorgfalt unter Anwendung der Sonic Solutions NoNoise-Technik bearbeitet werden, um sie an digitalen Klangstandard anzugleichen. Mehr Info... |
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