
Bruckner, Anton - Sinfonie Nr. 9 d - Moll
Wann ist Schluss?
Label/Verlag: Atma classique
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Yannick Nézet-Séguins Aufnahme von Bruckners Neunter Symphonie weiß durch einige Details für sich einzunehmen. Einige andere Lösungen, gerade im zweiten Satz, können aber nicht restlos überzeugen.
Wer einen weiteren Versuch der Vollendung von Bruckners Neunter Symphonie erwartet, muss sich immer noch gedulden. Yannick Nézet–Séguin hat mit dem Orchestre Métropolitain du Grand Montréal bei Atma Classique eine Aufnahme vorgelegt, die sich in der möglichen Architektur des Werkes nicht von bisherigen unterscheidet. Wie auch? Der geübte Hörer/die geübte Hörerin hat sich bereits an die Dreisätzigkeit der letzten Symphonie von Anton Bruckner gewöhnt. Das wird daran deutlich, dass zwar 1986 William Carragan und 1991 Nicola Samale, John Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca einen Versuch der Vollendung Bruckners letzter Sinfonie vornahmen, aber viele Kritiker doch wenig Zusammenhänge zu Bruckners Kompositions-Stil sahen.
Der Komponist konnte seine letzte Sinfonie nicht beenden. Er bat an Stelle seiner bereits notierten Entwürfe zum vierten Satz sein 'Te Deum' als Finale zu verwenden. Im Booklet steht darüber: „Bruckner suggerá, pour une éventuelle création post-mortem, d’utiliser son Te Deum en lieu et place d’une conclusion originale“. Lediglich bei der Uraufführung der Neunten durch Ferdinand Löwe 1903 wurde dem Wunsch des Final-Ersatzes nachgegangen. Viele bisherige Einspielungen beinhalten hingegen ausschließlich die auskomponierten Sätze eins bis drei. Auch Nézet-Séguin geht einer Debatte bezüglich des vierten Satzes aus dem Weg, indem er lediglich die vollendeten Partiturteile aufnimmt. Diese sind an einigen Stellen sehr genau und an anderen noch (ver)besser(t) ausgestaltet.
Anton Bruckners umstrittene Kompositionsmethoden
Bei Bruckner war man sich nie so sicher, ob seine Symphonien wirklich Anerkennung verdienten. Kritiker schrieben über sein kompositorisches Können, als ob er keine musikalische, sondern wohl eher eine Bäcker-Ausbildung erhielt, womit das wahllose Hineinwerfen von Themen in eine Schüssel namens "Satz" gemeint sei. Betrachtet man jedoch die kleinen Brötchen nicht als Brötchen, sondern als Zopf, dann wird klar, dass Bruckner trotz der zahlreichen Verwendung von Generalpausen verbindende Ideen hatte: Beispielsweise das Oktavmotiv des ersten Satzes der Neunten Sinfonie, welches den Haupt- und Seitensatz zueinander in Bezug setzt. Die verbindende Idee wird, nicht nur an dieser Stelle, deutlich. Vom Anfang bis zum Hauptsatz ist sowohl eine rhythmische als auch eine dynamische Steigerung zu erkennen. Das Orchestre Métropolitain du Grand Montréal reizt hier die Angaben, die durch die Partitur vorhanden sind, bis ins kleinste Detail - u.a. von Pianisimo bis Fortefortisimo - aus. Das Pianissimo der ersten Töne der Einleitung ist ungewöhnlich leise. Das Fortefortissimo stellt das angenehme Gegenteil dar. Auch die zahlreichen Änderungen der musikalischen Gangart, etwa in der Exposiiton des Kopfsatzes, realisiert Yannick Nézet-Séguin sehr genau, so wie es die Partiturausgabe von Leopold Nowak (1951) vorgibt, die bei dieser Aufnahme aus dem Jahr 2007 verwendet wurde. Doch hält sich der Dirigent wirklich in allen Sätzen daran? Oder gibt er von dieser oder jener musikalischen Backzutat ein wenig zu viel in seinen Teig?
Wie langsam darf es werden?
An einigen „Absätzen“ findet man keine Eintragung in der Partitur. Nézet-Séguin beendet diese aber oft mit etwas Verzögerung. Das Werk wird dadurch aber weder zerstört noch entfremdet. Es wird abgerundet, wie etwa am Ende der Exposition des ersten Satzes und im Trio des zweiten Satzes, nachdem das dritte Mal in den Streichern der Pizzikato-Aufstieg gespielt wurde. Die Zäsur hat erst an anderer Stelle größere Auswirkung – wenn im Trio auf den tänzerischen ein melancholischer Teil folgt. In diesem Teil schlägt Nézet-Séguin nun ein langsameres Tempo an, das jeweils durch eigenständig hinzugefügte Ritardandi eingeführt wird. Diese Idee ist keine neue, sondern ein weit verbreitetes Detail der Aufführungstradition. Dieser langsame Teil, der zwischen dem tänzerischen Geiger-Pizzikato erklingt, erlangt durch die Tempoverzögerung eine bedrückende Wirkung. Insofern dürfen unter ästhetischen Gesichtspunkten die Ritardandi als durchaus gerechtfertigt angesehen werden.
Einige Ungenauigkeiten
Unverständnis aber macht sich breit, wenn die Dynamik der Geigen im Trio in den Hintergrund gerückt wird, da dynamische Extreme nivelliert werden. Die Dynamik der Streicher wird recht unpräzise ausgeführt, denn notierte Crescendi der Streicher werden nicht in vollem Maße ausgenutzt bzw. nur angedeutet. Hier wird versucht, die Phrasen miteinander zu verknüpfen, in dem die Lautstärke als Bindemittel fungiert und das vorzüglich intonierte, kräftige Blechbläser-Thema eingeleitet wird. Nézet-Séguin interpretiert es auf seine Weise, und lässt die Viertelnoten der Blechbläser enger aneinander klingen. Der Klang der Blechbläser ist in Nézet-Séguins Einspielung angenehm stark, kommt jedoch nicht an die zusätzliche Klarheit des Bleches etwa bei Sawallisch heran. Überhaupt wirkt das Blech hier zwar kräftig, aber keineswegs zu dominant. Der dritte Satz ist mit 'Adagio' überschrieben. Schon die ersten Takte werden sehr ausdrucksstark umgesetzt. Das Tempo wirkt nicht zu übertrieben, auch wenn es sehr langsam gewählt wird.
Bezüglich der kompositorischen Absicht bzw. der genauen Partiturvorgaben sind hier einige Abstriche zu machen. Der erste und dritte Satz schließen besser ab als der zweite, da dieser mit Nachlässigkeit in den Streichern des Scherzos und des Tempos im Trio die ursprüngliche Idee wieder einmal übergangen wurde, wie auch schon in vorherigen Aufnahmen der Fall.
Im Booklet finden nicht nur Angaben zu Werk und seiner Rezeptionsgeschichte Platz, sondern auch ausführliche biographische Hinweise zum Dirigenten, dem derzeitigen Shootingstar unter den jüngeren Dirigenten.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bruckner, Anton: Sinfonie Nr. 9 d - Moll |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Atma classique 1 12.08.2008 |
Medium:
EAN: |
SACD
722056251426 |
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Atma classique Das Label ATMA - Seele oder Lebensgeist auf Sanskrit - wurde 1995 gegründet und bietet inzwischen mehr als 200 Aufnahmen von mittelalterlicher bis zu zeitgenössischer Musik mit einem besonderen Schwerpunkt im Barock. Für ihre Aufnahmen umgibt sich Johanne Goyette, Direktorin und zugleich Toningenieurin der Firma, gerne mit wagemutigen Künstlern, um in ihrem Studio Unerhörtes (und Ungehörtes) zu schaffen.
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