
Sciarrino, Salvatore - Lohengrin
Faszinierende Neueinspielung
Label/Verlag: col legno
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Bei col legno erscheint eine Neueinspielung von Salvatore Sciarrinos Musiktheater ‚Lohengrin’, flankiert von zwei sehr unterschiedlichen Instrumentalkompositionen.
Gerade erst vor kurzer Zeit hat Stradivarius den historischen Mitschnitt von Salvatore Sciarrinos Musiktheater ‚Lohengrin’ (1982/83) neu aufgelegt, da schiebt das Label col legno eine neue Einspielung vor, gleichfalls eine Live-Aufnahme, entstanden 2005 während der Tiroler Festspiele in Erl. Die Interpretation durch die Sopranistin Marianne Pousseur und das Ensemble Risognanze unter Leitung von Tito Ceccherini muss sich keinesfalls hinter der älteren Aufnahme verstecken, beinhaltet eine Reihe großartiger Höhepunkte und ist vor allem in Bezug auf den CD-Klang überlegen. Der Hyperrealismus von Sciarrinos musikalischer Naturschilderung – sie dient immer wieder als Kontrapunkt zu den Fantasien der weiblichen Hauptperson, der den Bezug zur realen Außenwelt herstellt – ist grundsätzlich sehr dicht, ebenso wie Pousseurs Einsatz der Stimme, mit der sie, durchzogen von konzentrierten Spannungspausen, das Psychogramm einer Verzweifelten malt.
Auch wenn Daisy Lumini mit ihrer Interpretation von 1986 die Messlatte ziemlich hoch gelegt hat: Pousseur schafft es, die Figur der Elsa gleichfalls zur packenden Studie eines zerrütteten Innenlebens zu machen, interpretiert sie zwischen trockenem Parlando-Tonfall, kindlichem Gestammel und den verzweifelten bis kraftlosen Stimmverrenkungen einer alten Frau. Der Vergleich ist aufschlussreich, denn Pousseur ist manchmal präsenter, aber auch direkter in ihrem Zugang, was dem Vokalpart vielleicht etwas von seiner Rätselhaftigkeit nimmt, ihn dafür aber stellenweise auch profilierter erscheinen lässt. Sciarrinos musikdramatisches Porträt der gespaltenen Persönlichkeit, die sich am Ende in die Melodie eines Kinderlieds und damit ihn den Schein kindlicher Unschuld flüchtet, wird hier in ein Nebeneinander verschiedener, gleichzeitig existierender Frauenfiguren aufgelöst – mit einer Konsequenz, die fasziniert. Kontrastreich ist auch das Ensemble trotz der vielen extrem leisen Passagen, lässt schon mal ein Forte vorbeiflirren und gewinnt stellenweise eine fast beängstigende Präsenz. Insofern ist die Einspielung der früheren Aufnahme überlegen. Den Applaus des Publikums am Ende hätte man freilich problemlos wegschneiden können.
Gegenüber der früheren Platte hat die neue Veröffentlichung den Vorteil, dass sie neben ‚Lohengrin’ weitere, sehr unterschiedliche Stücke Sciarrinos präsentiert. Zum einen sind da die ‚Due notturni crudeli’ (2005), zwei der jüngsten Klavierwerke des Italieners: Alfonso Alberti liefert eine kraftvolle Wiedergabe dieser Musik, behält über den Verlauf beider Sätze den kraftvollen Vortrag der ostinaten Fortissimo-Cluster in hohen Registern bei, der zwischenzeitlich – und höchst irregulär – in Tonketten oder Bewegungen aufgelöst wird. Obgleich in der Wirkung ganz anders als die meist verhaltene Klangwelt des Musiktheaters, hinterlassen auch die ‚Notturni’ den Eindruck des Unheimlichen und stehen damit geradezu diametral gegen die einseitig Konnotation von Verträumtheit, die heute insgeheim mit dem romantischen ‚Nocturne’ verbunden wird.
Neben dem Klavierwerk gibt es noch die Komposition ‚Vento d’ombra’ (2001) für 14 Instrumente zu hören. Spannend ist es, wie hier Klänge, Tonhöhen und Phrasen kurz aufscheinen und sich dann in Schatten verwandeln, sich dabei irisierend in vielfältigen Geräuschabstufungen hören lassen. Sciarrino gewinnt seinem Stil hier einige überraschende Wirkungen ab, weil er stärker mit der Tonhöhenkomponente arbeitet als in früheren Jahren: Die Ökonomie des Klanges wird hier nun eher in die Tonhöhenkomponente verlagert, in immer wieder anders organisiertes instrumentales Zusammenspiel und verschiedene Formen des Unisono. Die klare und kontrastreiche Umsetzung belegt, wie gut sich das Ensemble Risognanze auch dabei mit den Eigentümlichkeiten dieser Musik zurechtfindet.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Sciarrino, Salvatore: Lohengrin |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
col legno 1 15.08.2008 |
Medium:
EAN: |
CD
9120031340263 |
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col legno Welche Produktion von col legno Sie auch vor sich haben, eines ist gewiss: bunt wird sie sein und außergewöhnlich. Wir widmen uns herausragender Musik der Gegenwart und den Visionen ihrer Protagonisten. col legno bedeutet "mit dem Holz". Jeder Streicher weiß, was zu tun ist, wenn er diese Spielanweisung in seinen Noten liest: Er nimmt den Bogen, dreht ihn um und schlägt mit dem Holz auf die Saiten. Einst unerhört! Heute noch überraschend. Mit dieser spielerischen Offenheit dem Instrument gegenüber wurde die Klangvielfalt erweitert. Dieselbe Offenheit widmet col legno der Musik. col legno veröffentlicht Neue Musik - umfassend und zeitgemäß. Das Label steht für die Vielseitigkeit der Gegenwart und aufregende Interpretationen von Musik der Vergangenheit. Unsere Hörer haben viel mit uns gemein: Sie heißen Neues willkommen, wechseln Perspektiven, genießen eine Prise Humor und lieben das Kribbeln beim Genuss kreativer Inspiration. col legno nutzt die jeweils für die Produktionen optimalen Tonträger und Formate - von der CD über Multichannel Medien bis hin zu gänzlich neuen Entwicklungen. Dabei bieten wir unseren Hörern immer "state-of-the-art" Technik und beste Audioqualität. Die künstlerische Leitung des Labels wurde 2005 von Andreas Schett und Gustav Kuhn übernommen. Unter ihrer Führung hat sich der Katalog kontinuierlich und in klaren Zügen erweitert. Seit 2015 ist Andreas Schett alleiniger Inhaber des Labels. col legno - new colors of music
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