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Freitag, 9. Juni 2023

Mendelssohn-Bartholdy, Felix - Sämtliche Streichersinfonien

Musikalische Identitätsbildung


Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Die Streichersinfonien von Felix Mendelssohn Bartholdy mit der Amsterdam Sinfonietta unter Lev Markiz erscheinen bei BIS als Wiederveröffentlichung in einer Platz sparenden SACD-Version, die sich jedoch nicht für normale CD-Player eignet.

Obgleich sie im Grunde nichts anderes als fantasievolle und variantenreiche Übungsstücke eines Zwölf- bis Vierzehnjährigen sind, enthalten Felix Mendelssohn Bartholdys Streichsinfonien eine Fülle schöner Musik. In den dreizehn zwischen 1821 und 1823 entstandenen Werken zeichnen sich die Lernprozesse ebenso ab wie die unterschiedlichen Einflüsse, die der junge Komponist musikalisch verarbeitet hat. Und das ist vielleicht das Spannendste an dieser Werkfolge: den Weg der musikalischen Identitätsbildung zu verfolgen, den Mendelssohn in zwölf Sinfonien ausgehend von der relativ unselbstständigen, an verschiedene Musikstile angelehnte Kopie beschreitet und der ihn allmählich zu einer zunehmend erkennbar eigenen Individualität führt – bis hin zu jenem Stadium, in dem er nicht mehr mit dem Klangkörper des Streichorchesters zufrieden ist, eines der Werke zusätzlich mit Holzbläserstimmen ausstattet und den letzten Versuch, die Sinfonie Nr. 13 c-Moll, dann gar nach dem ersten Satz abbricht.

Nachvollziehen lässt sich dies inzwischen anhand einiger Aufnahmen, zu deren besten die Einspielung mit der Amsterdam Sinfonietta unter Leitung von Lev Markiz gehört: 1993 bis 1996 entstanden und bei BIS auf CD veröffentlicht, hat das Label nun aus Gründen der Platzersparnis das komplette Audiomaterial mit einer Dauer von 255 Minuten auf eine Single-Layer-Disk gepresst, die sich jedoch ausschließlich über einen SACD-Player (und eben nicht auch über einen herkömmlichen CD-Player) abspielen lässt. Die Aufnahmen aus den Neunzigerjahren wurden für diesen Zweck auf den neuen Datenträger transformiert, wo sie weiterhin im Stereoformat vorliegen und nicht für einen Surroundklang abgemischt wurden. Die Motivation für diese Wiederveröffentlichung scheint daher vor allem das erneute Verfügbarmachen der vorliegenden Einspielung im Zuge einer Reduzierung von mehreren Datenträgern auf einen zu sein, denn klanglich gibt es keinerlei Unterschiede zur früheren CD-Version.

Hiervon einmal abgesehen, ist die Aufnahme tatsächlich sehr empfehlenswert und bewegt sich auf dem höchstmöglichen spieltechnischen Niveau. Die Orchesterbesetzung hätte manchmal vielleicht etwas kleiner ausfallen können und wirkt gerade in den frühesten Sinfonien sehr kompakt, doch scheint mir dies eine bewusste interpretatorische Entscheidung zu sein. Markiz schafft es dadurch nämlich, der romantischen Entstehungszeit dieser Jugendwerke gerecht zu werden, indem er das Klangbild romantisierend, aber unter sorgfältiger Verwendung verschiedener Vibrato-Abstufungen ausleuchtet, ohne dabei Mendelssohns musikalische Orientierungspunkte – in den früheren Werken sind dies vor Johann Sebastian Bach, Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart, aber durchaus auch Georg Friedrich Händel – aus den Augen zu verlieren. Gerade in der Aufeinanderfolge der Kompositionen wird hier sehr gut deutlich, wie sich die zunächst etwas konventionell geratenen Stilkopien langsam hin zu eigenständigen Gebilden entwickeln.

Exaktheit und Brillanz des instrumentalen Zusammenspiels sowie überzeugende Darstellung der musikalischen Verläufe bei maximaler Transparenz des Satzbildes und frischen, aber nie zu rasch gewählten Tempi – dies sind die Merkmale, aufgrund derer sich die Einspielung vor anderen auszeichnet. Besonders überzeugend ist die Interpretation bei der höchst plastischen Darstellung der zahlreichen kontrapunktischen Passagen, so beispielsweise in der Grave-Einleitung zum Kopfsatz der Sinfonie Nr. 4 c-Moll und in den daraus resultierenden dramatischen Verdichtungen im nachfolgenden Allegro geraten. Aber auch die sorgfältige Ausformulierung primär melodischer Momente nehmen immer wieder für sich ein, vor allem dann, wenn – wie im Mittelsatz der Sinfonie Nr. 5 B-Dur – die Darstellung auch das musikalische Innenleben der Neben- und Begleitstimmen zur Geltung kommen lässt. Sehr facettenreich ist auch das Andante aus der Sinfonie Nr. 7 d-Moll mit seiner schrittweisen Erschließung der Registerlagen von der führenden Stimme aus umgesetzt

Ausgesprochen spannend stellt sich darüber hinaus die fünfsätzige Sinfonie Nr. 11 F-Dur mit ihrer fünfsätzigen Anlage dar: Die Einspielung beleuchtet die Experimentierfreudigkeit des Komponisten, der hier effektvoll instrumentiert, so in Bezug auf die Perkussionsinstrumente des marschähnlichen Mittelteils im Scherzo, die in anderen Aufnahmen mitunter einfach weggelassen werden. Gerade der letzte Satz zeigt, auf welch hohem Niveau das Orchester musiziert, denn hier lassen sich keinerlei instrumentaltechnische Blößen entdecken. Zudem belegen die spannungsreichen vibratolosen die sorgfältige Reflexion verschiedener Möglichkeiten des Streicherklangs. Ein weiterer Pluspunkt ist die Gegenüberstellung beider Versionen der Sinfonie Nr. 8 D-Dur: Mendelssohns Fassung mit Holzbläsern überzeugt durch die Einfügung völlig neuer Farbwerte, die orchestrale Umsetzung ist klangvoll, subtil – und bildet letztlich das i-Tüpfelchen auf einer ganz ausgezeichneten Gesamteinspielung.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Mendelssohn-Bartholdy, Felix: Sämtliche Streichersinfonien

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
BIS Records
1
29.01.2008
Medium:
EAN:

SACD
7318599917382


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BIS Records

Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees.


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