
Neuwirth, Olga - Der Tod und das Mädchen II (Hörstück nach einem Text von Elfriede Jelinek)
Ich lasse mich nicht wegjodeln
Label/Verlag: col legno
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Olga Neuwirth hat in Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek den Dornröschenmythos neu beleuchtet. Ein Wechselspiel aus Liebe und Tod, das auch brisante Bögen zur politischen Aktualität schlägt.
Die Musik der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth will eine wachsame sein. Die Wirklichkeit des Alltäglichen zeigt sie ungeschönt auf, ohne musikalische Analgetika, die dem Hörer eine Welt ohne Risse vortäuschen und ablenken von den Missständen, deren Offenlegung zu den grundlegenden Aufgaben einer Künstlerin gehört, die ihre Arbeit als politisch versteht. In kulturkonservativen Kreisen wird ein solcher Anspruch schon mal als ‘Weltkatzenmusik’ abgetan – doch Olga Neuwirth lässt sich nicht ‘wegjodeln’, wie sie auf einer Großdemonstration gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Wien betonte.
Seit vielen Jahren arbeitet Olga Neuwirth mit der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zusammen – wie sie auch als ‘Nestbeschmutzerin’ diffamiert. Eines ihrer Projekte, das im Rahmen des Kulturprogramm des Deutschen Pavillons auf der EXPO 2000 präsentiert wurde, ist nun bei col legno erschienen: ‘Der Tod und das Mädchen II’, ein Hörstück Neuwirths über einen Text von Elfriede Jelinek, eine Auseinandersetzung mit dem Mythos des Dornröschens, projiziert auf die moderne Gegenwart.
Elfriede Jelinek hat dem Mythos das Märchenhafte genommen und die inneren Strukturen um Eros und Thanatos, Liebe, Tod und Scheintod, freigelegt. Dabei bleibt es jedoch nie bei einer Bedeutungsebene, der Text lässt sich auf vielfache Weise lesen: als Befindlichkeitsstudie einer jungen Frau, als Nachdenken über die Rollenverteilung der Geschlechter mit dem küssenden aktiven Mann und dem begehrten Objekt der Frau, aber eben auch als politische Parabel. Dornröschen ist auch ‘das kleine, dicke, hübsche, unschuldige, harmlose Land, das vom Prinzen Haider wach geküsst wird. So ein Kuss ist diesem Land schon einmal passiert, und schon damals hat es sich bekanntlich willentlich hingelegt’, so die Autorin über die Deutung des Gleichnisses.
Diesen ständig changierenden Monolog-Dialog hat Olga Neuwirth musikalisch übersetzt. Eine Tonbandkomposition ist entstanden, die den Wörtern ihre Unschuld nimmt, mithin das Unsagbare ausspricht. Vorherrschend ist eine geräuschdominierte, computergenerierte Klanghülle, aus deren Künstlichkeit immer wieder scheinbar vertraute Klänge durchdringen: modifizierte Reminiszenzen einer heilen Welt, die zuletzt auch den Bogen zu einer politischen Realität schlagen. Neuwirths Komposition weckt bewusst Assoziationen und entspricht so der Doppelbödigkeit des Textes. Hanna Schygulla und Anne Bennent haben den Text eingesprochen, daneben erklingt eine von Gottfried Hüngsberg generierte Computerstimme. Es entsteht ein musikalisches Chiaroscuro zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, zwischen Realität und Irrealität.
Auch technisch ist das Hörstück brillant umgesetzt in Kooperation mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. Das äußerst elaborierte akustische Material eint Musik und Sprache und zeugt von der tiefen gegenseitigen Durchdringung von Klang und Text.
Olga Neuwirth möchte ‘bewußt denkende Menschen, Selberdenker als Zuhörer haben, die in der Musik und in der Kunst überhaupt die Widerspiegelung des suchenden Menschen sehen, der entschlossen ist, das Gewohnte zu begreifen, das Herrschende zu überwinden und ins Unbekannte vorzustoßen – der daher seiner Umgebung gegenüber offener und toleranter ist.’ Ihr Hörstück ‘Der Tod und das Mädchen II’ ist in seiner vieldeutigen Klanglichkeit, die keine eindeutigen Lösungen liefern möchte, das Ungewisse dem Altbekannten vorziehend, ein hervorragender Ausdruck dieser Haltung. Diese Kunst ist stärker als ohrenbetäubendes Jodeln.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Neuwirth, Olga: Der Tod und das Mädchen II (Hörstück nach einem Text von Elfriede Jelinek) |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
col legno 1 17.08.2007 |
Medium:
EAN: |
CD
4099702026124 |
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Neuwirth, Olga |
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col legno Welche Produktion von col legno Sie auch vor sich haben, eines ist gewiss: bunt wird sie sein und außergewöhnlich. Wir widmen uns herausragender Musik der Gegenwart und den Visionen ihrer Protagonisten. col legno bedeutet "mit dem Holz". Jeder Streicher weiß, was zu tun ist, wenn er diese Spielanweisung in seinen Noten liest: Er nimmt den Bogen, dreht ihn um und schlägt mit dem Holz auf die Saiten. Einst unerhört! Heute noch überraschend. Mit dieser spielerischen Offenheit dem Instrument gegenüber wurde die Klangvielfalt erweitert. Dieselbe Offenheit widmet col legno der Musik. col legno veröffentlicht Neue Musik - umfassend und zeitgemäß. Das Label steht für die Vielseitigkeit der Gegenwart und aufregende Interpretationen von Musik der Vergangenheit. Unsere Hörer haben viel mit uns gemein: Sie heißen Neues willkommen, wechseln Perspektiven, genießen eine Prise Humor und lieben das Kribbeln beim Genuss kreativer Inspiration. col legno nutzt die jeweils für die Produktionen optimalen Tonträger und Formate - von der CD über Multichannel Medien bis hin zu gänzlich neuen Entwicklungen. Dabei bieten wir unseren Hörern immer "state-of-the-art" Technik und beste Audioqualität. Die künstlerische Leitung des Labels wurde 2005 von Andreas Schett und Gustav Kuhn übernommen. Unter ihrer Führung hat sich der Katalog kontinuierlich und in klaren Zügen erweitert. Seit 2015 ist Andreas Schett alleiniger Inhaber des Labels. col legno - new colors of music
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