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Dienstag, 28. November 2023

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Robin Ticciati – Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des DSO, Copyright: Giorgia Bertazzi

Robin Ticciati – Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des DSO, © Giorgia Bertazzi

Robin Ticciati dirigiert Mahlers Fünfte

'Gay Classic' im Schatten des Erdogan-Besuchs

Freitagabend in der Philharmonie, 20 Uhr, Konzert des DSO unter Robin Ticciati, dem scheidenden Chefdirigenten. Auf dem Programm steht ein fünfminütiges Werk für Kammerorchester von Elizabeth Ogonek (geb. 1989), dann „Fearful Symmetries“ von John Adams (geb. 1948), das in gut 27 Minuten einen unerhörten Drive entwickelt und mit Unterstützung von zwei Synthesizern eine hochindivuelle elektronische Klangfarbe bekommt, die an Nächte im Berghain erinnert. Und nach der Pause Mahlers 5. Sinfonie.

Ganz offensichtlich leben in Berlin viele Menschen, denen dieses legendäre Werk über „Tod in Venedig“ als „Gay Classic“ besonders am Herzen liegt. Jedenfalls habe ich selten so viele Herrengruppen im Konzert gesehen. Was toll ist. Mein Kollege aus dem Büro, den ich sonst nie in der Philharmonie treffe, erklärte mir – als ich sagte, dass ich wegen der Polizeimaßnahmen rund um das Regierungsviertel im Zusammenhang mit dem Besuch des türkischen Staatspräsidenten etwas früher wegmüsse –, dass er dann auch früher gehen müsse, weil er mit seinem Mann zum gleichen Konzert wollte. Ich staunte!

Das Eröffnungsstück des Abends, „Ringing the Quiet“, schrieb Ogoneks mit 22 Jahren, es wurde 2012 beim Aldeburgh Festival im Rahmen des Britten-Pears-Young-Artist-Programms uraufgeführt. Es klingt ein bisschen wie der Soundtrack zu einem guten Horrorfilm, mit spooky Klangeffekten (quietschende Geigenglissandi usw.). Aber: anders als gute Horrorfilme tut diese Musik nicht wirklich weh. Und sie ist auch schon wieder vorbei, bevor man sie einordnen kann. So viel zu der Programmierung des DSO, bei jedem Konzert ein Werk einer weiblichen Komponistin zu spielen… da wäre es für eine faire Gleichbehandlung schon sinnvoll, nicht immer nur solche Mini-Stücke zu offerieren, die von den männlichen Komponisten quasi weggepustet werden. (Eine Beobachtung, die ich diese Saison schon öfter gemacht habe.)

Adams‘ 1988 in der New Yorker Avery Fisher Hall uraufgeführtes Stück, das seinen Titel einem Gedicht von William Blake (1757-1827) verdankt, ist eine Art Maschinenmusik, mit einem gnadenlos pulsierenden Rhythmus und brillant darübergelegten Soundwelten, die sich kontrastreich abwechseln. Dazu bot das DSO zwei Tänzerinnen (Michèle Sezdoux und Verónica Segovia-Torres), die in grauschwarzen Zweite-Haut-Stretchanzügen rund um das Orchester agierten, hinten auf der Chortribüne, vor auf einem eigens eingerichteten Bereich vor dem Dirigentenpult (vom Publikum aus gesehen). Sie wirkten wie synchron agierende Roboter, bis sich eine am Ende die Schminke abwischte, die Haare löste, das Top auszog und einen schwarzen Rock anzog. Was das genau bedeuten sollte blieb unklar, aber dieses Vage passte gut, denn es erlaubte jedem seine eigenen Assoziationen.

Grundsätzlich steigerte die Tanzperformance die Wirkung des Stückes sehr und tat der ohnehin schon fulminanten Wiedergabe gut. Bei den aus der Popmusik und vom Broadway kommenden tänzerischen Elementen merkte man dezent, dass das nicht so die Welt des DSO ist, aber das änderte nichts daran, dass das Werk atemberaubend knallte, so oder so.

Mahler knallt natürlich auch, so oder so. Was mir auffiel war, dass Ticciati bei dieser Sinfonie die scharfen, schrägen, satirisch überzeichneten Stellen selten scharf und schräg spielen ließ. Dadurch fehlte der Musik oft die Qualität des „Schreiens“, die im Olymp der Mahler-Diskografie Dirigenten wie Leonard Bernstein so genial hervorgekehrt haben. Auch zügelte Ticciati die Klanggewalt selten und erlaubte dem Orchester, fast durchweg mit voller Wucht aufzuspielen, statt Passagen gezielt zurückzunehmen – was (um nochmal auf Bernstein zu verweisen) der Musik eine oftmals gespenstische Jenseitigkeit gegeben hätte. Bei Ticciati war Mahlers Fünfte ganz diesseitig. Im legendären „Tod in Venedig“-Adagietto entfalteten die DSO-Streicher ihre wunderbare Klangwärme, die einmalig ist. Aber das Herz blieb mir nicht stehen vor Ergriffenheit. Nicht ein Mal.

Besonders gut funktionierte das Scherzo. Auch beim Rondo-Finale war die Spielfreude des Orchesters mitreißend. Die Steigerungskurve, um die Zuhörer zum Schluss wirklich von den Sitzen zu fegen, blieb aus, weil das Pulver schon vorher verschossen war. Da ich Robin Ticciati als Dirigenten sehr bewundere und seine Konzertauftritte in Berlin liebe, fragte ich mich, ob der 40-Jährige noch seinen Zugang zu Mahler sucht… denn eigentlich leuchtet mir nicht ein, warum ich ihn in fast allem anderen Dingen so toll finde, nur nicht bei Mahler-Programmen.

Das Publikum – Herrengruppen inklusive – reagierte jedenfalls begeistert und spendete tosenden Beifall. Besonders für die Solo-Trompete und das Solo-Horn. Man wurde in die Nacht entlassen, wo wegen Erdogan der öffentliche Nahverkehr immer noch stockte. Was einem beim langen Warten auf die nächste S-Bahn viel Zeit gab, weiter in Mahler-Erinnerungen zu schwelgen.

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Kritik von Dr. Kevin Clarke

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