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Dienstag, 5. Dezember 2023

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Evgeny Kissin und das BRSO, Copyright: Astrid Ackermann

Evgeny Kissin und das BRSO, © Astrid Ackermann

Das BRSO spielt Rachmaninow und Schostakowitsch

Musikalische Bekenntnisse

Ein Debüt gab es diese Woche beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu erleben, erstmalig stand Krzysztof Urbánski am Pult. Ein alter Bekannter beim BRSO ist dagegen Evgeny Kissin, wenn auch die letzte Zusammenarbeit anlässlich der gemeinsamen Asientour 2018 schon fünf Jahre zurückliegt. Ein rein russisches Programm wird in der Isarphilharmonie geboten, Sergej Rachmaninoffs drittes Klavierkonzert d-Moll gehört zum Anspruchsvollsten, was die Klavierliteratur zu bieten hat, statistisch gesehen ist es das Werk seiner Gattung, das dem Solisten die meisten Noten pro Sekunde abverlangt. Kein Problem für einen wie Kissin, der zu den technisch versiertesten Pianisten überhaupt gehört. Zuletzt hatte das BRSO dieses Konzert auf den Tag genau vor einem Jahr zusammen mit Seong-Jin Cho als Solist interpretiert – nicht an ihm, sondern am Dirigat von James Gaffigan lag es damals, dass die Chemie zwischen Solopart und Orchester nicht wirklich stimmte.

Bedingungslos emotional

Dieses Problem gibt es unter Urbánski nicht, überrascht ist man zunächst allerdings ob des fast schon aufreizend langsamem Tempos, mit dem der Kopfsatz eröffnet. Kissin formt die Oktaven zwar mit eindringlicher, fast andächtiger Breite, an der Intensität seines Spiels ändert die streckenweise beinahe zeitlupenartige Geschwindigkeit nichts. Seine musikalische Präsenz transportiert maximale Emotionen bis in die ausladende Kadenz, die er – wohl als einer der ganz wenigen seiner Zunft – trotz aller Schwierigkeiten frei von jeder Unsauberkeit im Pedalgebrauch meistert. Nicht umsonst ist Kissin auch in seinen Recitals einer der berufensten Rachmaninoff-Exegeten. Der Dialog mit Flöten- und Klarinettenstimme gelingt eindringlich. Ein Allegro (auch „ma non tanto“) ist das insgesamt allerdings nicht mehr, nicht immer kommt das dem Charakter des Satzes zugute. Zur vollen Entfaltung kommt dagegen die lyrische Melancholie des Mittelsatzes, seine weit geschwungenen Kantilenen kann Kissin auf die verlässlich weich gefederten Streicherpolster des BRSO betten, seine Anschlagsintensität – egal in welcher dynamischen Dimension – sucht ihresgleichen. Bedingungslos werfen beide Seiten die romantisch gewichtige Komponente in die Waagschale. Im dritten Satz kann Kissin seine überlegene Virtuosität von geballter Akkordwucht bis in fein gestreute Diskantperlen voll ausspielen, sein Vortrag bleibt durchweg spannungsgeladen bis in die perkussiv zugespitzte Stretta. Ein Ereignis ganz seltener Art schenkt er danach dem begeisterten Münchner Publikum. Nicht weniger als vier (!) Zugaben – wann erlebt man das schon bei einem Symphoniekonzert: Chopins Walzer Des-Dur op. 61/, besser bekannt als „Minutenwalzer“, zwei Mazurkas und Brahms´ As-Dur-Walzer op, 39/15 – allesamt mit klanglich veredelter Noblesse und jeder Menge rhythmischer Finesse.

Dramaturgisches Ventil

Es folgt Schostakowitschs Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 39, mit der der Komponist sich die ganze aufgestaute Frustration und Demütigung durch das Stalin-Regime nach dem Tod des verhassten Diktators von der Seele schrieb. Aus bedrohlich rumorenden Bass-Tiefen erheben sich die warm timbrierten BRSO-Streicher, signifikante Parallelen zu Mahlers „Urlicht“-Motiv aus dessen „Auferstehungssymphonie“, auf die im Programmbuch ausführlich und anschaulich BRSO-Bassist Frank Reinecke eingeht, greift alsbald die Klarinette auf. Sich auftürmende Klangschichten, resolute Akzente und rhythmisch prägnante Impulse sind bei Urbánski und dem BRSO in besten gestalterischen Händen. Bis in komplex verschachtelte, stets transparente Bläserstimmen spielen sich die durch das D-S-C-H-Motiv in allen möglichen Varianten autobiografisch kodierten Dramen ab. Urbánskis Dirigat gibt der ganzen persönlichen Verbitterung Schostakowtischs eine hörbare Stimme, ein dramaturgisches Ventil, durch das sich die massive Wucht des kurzen, aber giftig beißenden Stalin-Porträts im explosiven „Allegro“ voll entladen darf. Wo einsam wandernde Stimmen der Gefahr ausgesetzt sind, erratisch zu wirken, gelingt es dem auswendig dirigierenden Urbánski, den Fokus zu wahren und echte musikalische Bekenntnisse zu formulieren. Fast jedes Instrument erhält, ob im „Allegretto“ oder dem „Adagio“-Abschnitt des Schlusssatzes Gelegenheit, sich solistisch zu profilieren: Ob Flöte, Fagott, Oboe oder Englischhorn – allesamt mit der gewohnten Klasse der BRSO-Instrumentalisten vorgetragen. Elektrifizierendes Schlagwerk treibt die turbulente Motorik bis zur finalen Klimax kontinuierlich voran.

Kritik von Oliver Bernhardt

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