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Festivalwanderung "Wege zum Glück", Offenes Singen mit Onna Stäheli, © Akvilė Šileikaitė
Das Davos-Festival erhebt 2023 Einsamkeit zum Programm
Allein und doch gemeinsam
Joanna Thalmann sitzt auf einer von Bäumen umgebenen Anhöhe oberhalb des Schwarzsees nahe Davos. In sich gekehrt spielt sie Alberto Ginasteras „Sonatina“ und Pierick Houdys „Sonate“ für Harfe. Das Publikum – auch kleine Kinder und Hunde sind dabei - lauscht andachtsvoll, auf Bänken, Liegestühlen und auf dem Boden, da wo man eben Platz findet. Die beiden Soli sind die Mittelstücke zwischen Henri Tomasis Holzbläserquintett „Cinq danses profanes et sacrees“ und einem Bouquet Saxophonbearbeitungen, mitreißend vom Ardemus Quartet dargeboten.
„Untertauchen“ heißt das von Speis und Trank begleitete vormittägliche Konzert und es steht symptomatisch für das Davos Festival, das seinen Reiz aus der Verknüpfung von außergewöhnlichen Programmen an ungewöhnlichen Orten bezieht. Unter dem Motto „Allein“ wird ganz Davos bespielt, sogar am Bahnhof erklingt Musik. Erdacht hat es Marco Amherd, seit 2019 amtierender Intendant, selbst Musiker und dazu noch Wirtschaftswissenschaftler. Mit der Recherche, so erzählt er, beginnt er schon im Frühherbst, also lange vor der zweiwöchigen Saison. Seine fantasievollen, aus einem reichen Kenntnisschatz schöpfenden Zusammenstellungen treffen auf eine neugierige und wachsende Fangemeinde. Das Publikum, bestehend aus Schweizer Sommertouristen, treuen Fördermitgliedern und eher wenigen Eingesessenen, geht bei allem mit, auch bei Zeitgenössischem.
„Allein“, das diesjährige Thema, wird in allen Facetten beleuchtet. Wie weit und assoziativ das Spektrum ist, zeigen die Konzertüberschriften. „Verloren“ heißt eine, „Wege zum Glück“ eine andere, „Waldeinsamkeit“ eine weitere. Dieses Konzert findet auf dem Waldfriedhof statt, passend vor dem anonymen Gemeinschaftsgrab mit der Inschrift „Ruhestätte der Einsamen“. Es kreist um seelische Zustände in der Natur und die Gefahr, der sie ausgesetzt ist. Wieder ist die homogene Bläserformation mit von der Partie, diesmal mit Arrangements von Schoeck, Ravel, Escaich und Brahms. Die Musik schafft eine Atmosphäre von Ruhe und Frieden, beängstigend ist das morbide Ambiente nicht. Auch nicht im Krematorium, zu dem die Zuhörerschaft nach dem Open-Air durch die grasgrüne Landschaft spaziert. Hier geben der Akkordeonist Nejc Grm und der Viola-Spieler Sào Soulez Larivière mit einer Bearbeitung von Benjamin Brittens „Lachrymae. Reflections on a Song of Dowland“ eine eindrucksvolle musikalische Visitenkarte ab. Beide gehören zu den Nachwuchstalenten, denen das Davos Festival eine Bühne bietet. Denn es versteht sich auch als Künstlerförderung und Werkstatt für „young artists in concert“. Das sind einmal von Marco Amherd eingeladene junge Solisten mit Lust auf abseitiges Repertoire, die sich in verschiedenen Besetzungen, vom Duo bis zum Quintett, vorstellen und sich auch, wie ein Mitwirkender berichtet, bestens verstehen. Zum zweiten die Camerata, ein zwanzigköpfiges Streicherensemble aus Musikstudenten verschiedener Nationalität, das mit der Dirigentin Holly Choe mehrere Stücke vorbereitet. Wie sehr die gemeinsame Arbeit fruchtet, wird bei Brittens Zyklus „Les Illumination“ deutlich, im Kongresszentrum präsentiert als Abschluss des ansonsten von Raritäten gespickten Konzerts „Orpheus und die Sterne“. Choe leitet ihn so sensibel wie empathisch, das Kollektiv reagiert wach auf ihre klare Zeichengebung und bietet der flexibel intonierenden Sopranistin Julia Duscher ein sicheres Fundament.
Der nächste Abend führt ins Hotel Schatzalp, das Thomas Mann zu seinem „Zauberberg“ inspiriert haben soll. Schwere Brocken werden dort serviert: Mieczyslaw Weinbergs Klaviertrio a-Moll, in dem die ganze Verzweiflung über den zweiten Weltkrieg mitschwingt, bringt das Trio Orelon mit brennender Intensität dar.
Anschließend singt Äneas Humm die „Sechs Monologe aus Jedermann“ von Frank Martin. Mit raumfüllender Stimme und erschütternd im Ausdruck macht er mit seiner Interpretation klar, warum er momentan einer der vielversprechendsten Baritone ist. Den Klavierpart übernimmt Renate Tsuyako Rohlfing, sie fällt durch ihre Vielseitigkeit in mehreren Programmen auf. Der Rausschmeißer gerät dann leichtgewichtiger. Der Geiger Dmitry Smirnov präsentiert Alfred Schnittkes Dekonstruktion von „Stille Nacht“ als schräge Performance, die er unter dem Flügel liegend beendet.
Davos 2023 bleibt als musikalisch- atmosphärisch erfüllendes Happening in Erinnerung. 2024 dreht sich das Festival um „Utopia“. Und es gilt 100 Jahre „Zauberberg“ zu feiern. Grund genug für eine erneute oder erste Reise nach Davos.
Kritik von Karin Coper
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