> > > > > 04.11.2023
Dienstag, 28. November 2023

Szenenfoto, Copyright: Michael Zapf

Szenenfoto, © Michael Zapf

Gilbert dirigiert Mahler

Bögen & Brüche

Ein in sich zusammenstürzender Marsch, ein Vexierspiel expressiver Zustände, die sich unentwegt gegenseitig Konkurrenz machen, ein nach allen Seiten hin eskalierendes Scherzo, eine unendliche Liebesmelodie, und schließlich eine gewaltige Spielwiese voller Formen und Farben, deren Ansteckungswirkung am Schluss wirklich jeden im Saal erfasst haben dürfte. Wenn Alan Gilbert und das NDR Orchester Gustav Mahlers Sinfonik auf dem Spielplan haben, freut sich der geneigte Mahlerianer himmlisch oder auch ganz irdisch oder so wie bei der Kinderüberraschung, denn Spiel, Spaß und Spannung sind zu erwarten. So auch dieses Mal im ausverkauften Großen Saal der Elbphilharmonie mit der Sinfonie Nr. 5 in cis-Moll. Was der Chefdirigent mit ‚seinem‘ Orchester da wieder alles zum Vorschein brachte, ließ ein ums andere Mal die Ohren klingeln. Wie groß das Vertrauen von Orchester und Dirigent, dessen Vertrag dieses Jahr bis 2029 verlängert wurde, ineinander ist, ließ sich gleich in den zwei Sätzen der ersten Abteilung vernehmen. Mit vollem Risiko ließ Gilbert da die brodelnden orchestralen Schichten aufeinandertreffen und sich aneinander reiben, sodass der Assoziationsraum des Militärischen im „Trauermarsch“ dem des musikalischen Erdbebens wich, der produktiven Brüche und der Verschiebung klanglicher Massen. So viel Mahlers Sinfonik in der Gegenwart auch gespielt wird, und so sehr die Mahler-Sinfonien mittlerweile längst fester Teil des Kanons sind, hier wurde deutlich, was für eine Erschütterung in jeglicher Hinsicht diese Sinfonie des Fin de Siècle damals bedeutete, und vielleicht auch heute noch. In diesem gewaltsamen Gewusel bildeten Guillaume Couloumys Trompetensoli mehr als einmal eine Art ‚Rettungsanker‘ für die Orientierung.

Nach so viel Gewaltsamkeit durfte es dann verblüffen, dass Gilbert im Scherzo-Komplex der zweiten Abteilung den Fokus mehr auf den Zusammenhang, den großen Bogen und ein einheitliches Tempo richtete, wobei dieses Umschwenken von einer Abteilung zur nächsten in der Musik durchaus angelegt ist. So stifteten auch Claudia Strenkerts wunderschön ironisch abgedunkelte Hornsoli eher Verbindungen, wie die zwischen den mehrfachen Wechseln von Scherzo-Tutti und kammermusikalischem Trio, statt die musikalische Struktur aufzureißen. Die Frage, wie Gilbert es mit dem berühmten „Adagietto“ nahm, das in dem Film „Tár“ mit Cate Blanchett jüngst erneut thematisiert wurde, ließ sich anschließend mit dem Wort „unaufgeregt“ beantworten: als unendliche Melodie, polyphon angereichert und mit zahllosen Streicherfarben versehen, die innige Wirkung stellte sich von allein ein. Der eigentliche Star am Schluss war schließlich das in seiner ansteckenden Feierlaune immer weiter expandierende Rondo-Finale. Irgendwie passte es da, dass Alan Gilbert im Schlussjubel mit einem Bierglas über die Bühne wanderte, um die drei Orchestermitglieder zu verabschieden, die mit diesem Abend in den Ruhestand gingen.

Weitaus weniger auffällig, sprich harmloser, fiel in der ersten Hälfte das rund 20 Jahre früher entstandene Violinkonzert in D-Dur von Peter Iljitsch Tschaikowsky aus, mit Joshua Bell als Solisten. Bei aller offenkundigen physischen Anstrengung und makellosen Virtuosität des Vortrags: Bell ist ein Geiger von Weltrang, von dem man eine wie auch immer geartete Individualität der Interpretation erwarten darf. Von kantablem Schmelz und bloßer Klangschönheit des Tons abgesehen, die vor allem die „Canzonetta“ erstrahlen ließ, war davon jedoch zu wenig zu hören. Gerade im Kopfsatz wirkte die Phrasierung allzu gleichförmig und der Vortrag frei von agogischer Gestaltung. Vielleicht hat sich dem Rezensenten aber auch einfach die Interpretation von David Oistrach unter Eugene Ormandy zu sehr ins Hirn gebrannt, die eindeutig detailreicher daherkommt. Das Publikum lag Bell gleichwohl zu Füßen, der dann in der Schostakowitsch-Zugabe gemeinsam mit der Konzertmeisterin Natalie Chee zeigte, über wie viel Strahlkraft sein Spiel verfügt.

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Kritik von Dr. Aron Sayed

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