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Szenenfoto Saul, © Barbara Braun
Axel Ranisch inszeniert Händels Oratorium „Saul“
Bibelstunde in der Behrenstraße
Die Geschichte beginnt an der Komischen Oper mit einem kurzen Schwarz-Weiß-Zeichentrickfilm, in dem die Vorgeschichte von Saul als erstem König Israels erzählt wird. Mit besonderem Fokus auf dessen Verstoß gegen Gottes Gebot, was dazu führt, dass Gott ihn abstrafen wird, wie im Alten Testament halt so üblich. Ebenfalls hervorgehoben werden im Film Sauls Depression und Gemütsschwankungen, die nur Harfenspiel lindern können. Und dann – natürlich – sieht man den Kampf des Schäfers (und Harfenspielers) David aus Sauls Königreich, der es schafft, in einer Schlacht den Riesen Goliath aus dem Heer der Philister zu erschlagen. Danach wird David als Held gefeiert – und damit beginnt auch das Oratorium „Saul“ von Georg Friedrich Händel aus dem Jahr 1739. Vorhang auf für Axel Ranischs Debüt an der Behrenstraße, das zugleich die letzte Premiere der Komischen Oper im Stammhaus ist, bevor im Sommer die Bau- und Renovierungsarbeiten beginnen.
Ranisch lässt die Geschichte in einem Grau-in-Grau-Bühnenraum von Falko Herold weiterspielen, bei dem im Hintergrund S/W-Filmprojektionen von Wolken für Bewegung sorgen, während man vorn eine Art abstrakten Betonbunker sieht, der in den Wüstensand hereingeweht ist. Und wie David (Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen) den gigantischen abgeschlagenen Kopf von Goliath an den Haaren hereinzieht. Um diesen realistischen Riesenkopf mit aufgerissenen Augen entfaltet sich die Story: König Saul (mit Basswucht: Luca Tittoto) ehrt seinen Helden, indem er ihm die Hand seiner Tochter Merab (Penny Sofroniadou) geben will. Als verwöhnte Göre der High Society – in entsprechendem Disco-Outfit (Kostüme: Alfred Mayerhofer) – findet Merab die Vorstellung entsetzlich, einen so tief unter ihr stehenden Mann zu heiraten, während gleichzeitig ihre Schwester Michal (Nadja Mchantaf) sich nach David verzehrt, genauso wie ihr Bruder Jonathan (der spielfreudige Tenorhunk Rupert Charlesworth), der eine besonders intime Freundschaft mit David entwickelt. Aber selbstredend ist im Alten Testament nicht an eine gleichgeschlechtliche Ehe zu denken, dazu kommt Eifersucht, als David schließlich Michal schwängert. Und ein herbes Aufbrausen von Saul, der plötzlich in David einen Konkurrenten um die Königskrone zu erblicken meint und ausgerechnet Jonathan beauftragt, David zu ermorden. Worauf dieser sich lieber selbst in eine Schlacht stürzt und heroisch umkommt.
Das ist mit seinen Verwicklungen ein biblischer Blockbuster-Stoff, den man als Familiendrama auch aus heutigen Soap Operas kennt, etwa aus der Serie „Blumige Aussichten“ bei Netflix (im Stil einer mexikanischen Telenovela), von „Dallas“ und „Denver Clan“ ganz zu schweigen. Alles ist over-the-top, rasant und melodramatisch: es geht um Standesdünkel, verbotene Liebe, Intrigen, Macht und Wahn. Da ist es durchaus nachvollziehbar, dass Ranisch seine Darsteller in Köstume steckt, die an aufgedonnerte Soaps erinnern, und dass er die drei Kinder des Königs als verwöhnte Society-Schnösel zeichnet, die in ihrer eigenen Glamour-Welt leben und am Ende an sich selbst zugrunde gehen. Bis auf Michal, die Davids Sohn gebiert, der nach Sauls Tod der neue König Israels wird.
Das hätte als Mix aus Gestern und Heute eine sehr gelungene Inszenierung werden können, vor allem weil Dirigent David Bates mit dem Orchester der Komischen Oper einen phänomenalen Klang entfesselt, bei dem die Musik maximal differenziert und mit Gespür für Kontraste vorwärts eilt. Dazu kommt der kleine, aber ungemein präsente Chor (Einstudierung: David Cavelius), der in diesem Oratorium viel zu tun hat und sogar eine Cheerleader-Tanzszene mit Bravour bewältigt. Wenn das alles nicht ganz so wirkt, wie es könnte bzw. sollte, dann liegt es daran, dass die Darsteller zwar rundum über gute Stimmen verfügen, aber nur sehr pauschal spielen, ohne jegliche textliche Klarheit oder darstellerische Präsenz. Das fällt besonders auf bei Luca Tittoto als König Saul: Ohne schauspielerische Finesse bleibt unklar, wieso seine Figur emotional so zerrissen ist zwischen Wut auf David, Angst vor diesem, warum er aber gleichzeitig den jungen Krieger in seine Familie holt, ihn zum Vertrauten erhebt, dann aber wieder verstößt. Tittoto bietet von sich aus kein entsprechendes Porträt an, und Ranisch hat mit ihm scheinbar keines erarbeiten können. Um bei Seifenopern zu bleiben: Vielleicht sollte sich Tittoto einmal die neue Serie „Queen Charlotte“ mit dem verrückten König George anschauen, um zu lernen, wie man solch eine Figur verkörpern könnte und trotzdem alle Sympthien auf seine Seite zieht.
Andererseits lässt Ranisch der Geschichte Raum, sich allein zu entfalten und auch alleine zu kommentieren. Das führt u.a. dazu, dass man über die Zärtlichkeiten im englischen Originaltext von Charles Jennens staunt, mit der sich Jonathan und David gegenseitig besingen. Ranisch betont diese homoerotische Beziehung nicht gesondert und gibt ihr damit eine Selbstverständlichkeit, die mich extrem beeindruckte. Weil es beeindruckend ist, wie da im 18. Jahrhundert etwas in Worten zelebriert wurde, was eigentlich verboten war und mit dem Tod bestraft werden konnte. Und wie Händel dazu eine tiefbewegende Musik schreibt, die von einzigartiger Schönheit ist.
Nachdem das Oratorium „Saul“ mit dem Triumphgesang auf den neuen König David endete – ein Triumph, der bei Ranisch wenig freudeverheißend in Szene gesetzt ist –, ist an der Komischen Oper allerdings nicht Schluss. Auch wenn jemand bei der Premiere anfing, enthusiastisch zu klatschen und Bravo zu rufen. Stattdessen hat Ranisch (zusammen mit Dramaturgin Johanna Wall) dem Ganzen ein Nachspiel hinzugefügt. Nussbaum Cohen sondert sich vom Chor ab und singt das Lied „King David“ des englischen Komponisten Herbert Howells (1892-1983). Darin beschreibt Nussbaum Cohen das spätere Schicksal von David ohne seinen Freund Jonathan: „King David was a sorrowful man“ ... er ist ein von Melancholie geplagter Mann geworden, dessen Herz von Schmerz erfüllt ist und von großer Traurigkeit. Aus dieser konnten Michal und das gemeinsame Kind David nicht retten, auch nicht seine Machtposition mit allem Glanz und Gloria. Nur der Gesang einer Nachtigall brachte Erlösung, dazu hört man schöne Flötenmomente im Orchester, arrangiert von Iain Farrington.
Dieses Nachspiel passt natürlich überhaupt nicht zu Händel, weil es nach dessen klarer barocker Musiksprache plötzlich ein hochexpressiver Seelenton ist. Der einen maximalen Kontrast zu den drei vorangegangenen Akten bildet. Und die Geschichte ins Heute holt. Ob man das mag, bleibt Geschmacksache. Auf alle Fälle wird man gezwungen, über das Ende und über David nachzudenken. Und während Nussbaum Cohen als alttestamentarischer Held (teils in unvorteilhaften Boxershorts) nicht unbedingt mit Schauspieltalent überzeugte, exzelliert er in der Melancholie dieses Howells-Liedes.
Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert. Viel Applaus für das gesamte Team. Ranisch bekam von den neuen Intendanten auch gleich weitere Inszenierungen angeboten: bislang bekannt ist, dass er nächsten Sommer die DDR-Operette „Messeschlager Gisela“ (1960) von Gert Natschinski in Szene setzen wird, diesmal mit einer Gruppe erfahrener Schauspieler, die hoffentlich mehr darstellerische Präsenz zeigen als die „Saul“-Solisten. Nicht unerwähnt bleiben sollten wegen ihrer besseren Textbehandlung: Tansel Akzeybek als Hohepriester (er verabschiedet sich mit der Rolle von der Komischen Oper und wechselt an die Bayerische Staatsoper), Stephen Bronk als Geist Samuels, Ferdinand Keller als fabelhafter Amalekiter sowie Ivan Turšić als Hexe von Endor.
Anfang Juni findet nach der letzten „Saul“-Vorstellung die „Abschied und Aufbruch!“-Party in der Behrenstraße statt, bevor sich dort auf unbestimmte Zeit die Türen schließen. Meine Mutter sagte beim Verlassen der Premierenfeier: „Mir wird mein liebstes Opernhaus fehlen.“
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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