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Dienstag, 5. Dezember 2023

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Vida Miknevičiūtė (Lisa), Sergey Polyakov (Hermann), Copyright: Ludwig Olah

Vida Miknevičiūtė (Lisa), Sergey Polyakov (Hermann), © Ludwig Olah

Neuinszenierung von 'Pique Dame' in Dresden

Chancenlos am Rand der Gesellschaft

Nach 76 Jahren gibt es eine Neuinszenierung von Tschaikowskys „Pique Dame“ an der Semperoper in Dresden. Regisseur Dresen dreht am Plot, um seine Version zu erzählen. Fast wäre er damit gescheitert. Doch Evelyn Herlitzius in der Rolle der Gräfin erweist sich einmal mehr als Grande Dame der Bühne in einem grandiosen Finale. Das Publikum jubelt.

Im Ranking der bedeutenden Komponisten Russlands steht Peter Iljitsch Tschaikowsky an erster Stelle. Seine „Pique dame“ gilt als Meilenstein der russischen Opernliteratur. Sie auf den Spielplan zu setzten, erhitzte Anfang 2022 die Gemüter, als Putin seinen verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine startete. Die Diskussion brachte zu Tage, dass experimentierfreudige Kreativität in der UDSSR lebensgefährdend war und zwischenzeitlich unter Putins Regentschaft wieder rigide Reglementierung erfuhr. Vor Februar 2022 häuften sich die Nachrichten über verhängten Hausarrest, Auftrittsverbote, Verhaftungen und Schließungen von Spielstätten. Dann wurde es darum still. Nicht aber um die Kunst und deren Kunstschaffende zum Zweck wirksamer Propaganda oder zur Ausgrenzung.

Kunst ist eben politisch. Und wer Kunst betreibt, handelt politisch. Deutlich wurde dies, als mit dem Angriff auf die Ukraine ukrainische Künstler ihre Engagements in Russland verloren. Forderungen, dass russische Künstler bei Auftritten außerhalb Russlands ihre Position eindeutig benennen sollten, folgten auf den Fuß. 16 Monate nach Kriegsausbruch glättet scheinbare Ermüdung jegliche Woge und erstickt im Kern die Auseinandersetzung mit dem, was jede Seite betrifft: Ausgrenzung wie Besessenheit. Womit man mitten in der Geschichte von Tschaikowskys „Pique dame“ wäre.

Andreas Dresen, gebürtiger Geraer und vor allem als Theaterregisseur und Filmproduzent bekannt, hat diese Oper jetzt zum Saisonende an der Semperoper Dresden in russischer Sprache mit deutschen und englischen Untertiteln auf die Bühne gebracht. Die Besetzung ist international. Die Sänger stammen aus Russland, Litauen, der Ukraine, Amerika, Österreich, den Niederlanden, Schweden und Deutschland. Man habe wunderbar zusammengearbeitet, verkündete Bendikt Stampfli bei der Einführung vor der Premiere.

Andreas Dresen und sein Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau verständigten sich auf eine abstrakte Darstellung. Vom Welttheater war die Rede und von Dresens Faszination für den Charakter des Hermann, der einer Welt angehören wolle, in der die Leute ein besseres Leben führten. Aber auch von der unsäglichen Verbindung zwischen dem homosexuellen Komponisten und seiner Scheinehe mit Antonina Iwanowna Miljukova, die geradezu obsessiv um seine Liebe warb.

Fischer-Dieskau baute Dresen als Spielfeld Rotunden mit versetzten offenen Wänden auf drei Ebenen übereinander. Die Drehung jeder Ebene und eine geschickte Lichtregie ermöglichten schnelle Wechsel, was zu einer temporeichen Dramatik führte.

Drei Akte lang dauert die Oper, unterteilt in sieben Bilder voller Farben und Räume. Dresen blieb grau-schwarz-abstrakt. Sein Hermann verkörperte von Anfang an den Typus eines heruntergekommenen Säufers. Seine Aussicht auf Aufstieg ist damit von vorneherein chancenlos. In Abgrenzung zu diesem Ausgegrenzten kleidete Judith Adam die bessere Gesellschaft in Uniformen. Es gab keine Vorlage, hieß es, Erinnerungen an die ehemalige UDSSR drängten sich dennoch auf.

Zudem ließ Dresen marschieren, choreographierte Chorszenen zur Musik, als hingen die Menschen an Marionettenfäden, zeigte, dass Mädchen zur Gefügigkeit zu erziehen sind, und schickte eine Knabenarmee auf die Bühne, um zu salutieren. Als die wunderschön singenden Knaben in perfekter Synchronität ihre Maschinenpistolen auf Hermann richteten, strahlten sie vor Begeisterung. Tschaikowsky beschrieb diese Szene als spielerische Nachahmung der Erwachsenen. Dresen hatte mit seiner Umdeutung der Darstellung die Erwartungen der besseren Gesellschaft formuliert. Lisa folgt den Konventionen, während Herman erschossen wird. Um dies zu untermauern, besetzte Dresen das Intermedium im dritten Bild um, sodass es zu einer dramatischen Dreiecksgeschichte wurde. So kam es im Finale zum Spiel-Duell und es gelang brillant.

Zunächst jedoch ließen die Protagonisten jegliche Charakterschärfe vermissen. Sie sangen und spielten ohne dramatische Aussagekraft, während die Musik aus dem Orchestergraben überdeutlich markierte, was sich auf der Bühne im Geschehen hätte widerspiegeln sollen. Am Pult stand der aus St. Petersburg gebürtige Russe Mikhail Tatarnikov. Unter seiner Leitung bot die Sächsische Staatskapelle Dresden russische Seele in Reinkultur. Die Interpretation umfasste ein Spannungsfeld zwischen affektbestimmtem Realismus und sensitiver Lyrik, frei von Pathos und Schwülstigkeit, glasklare Präzision kleinster Details, ohne Furcht vor schmerzhafter Schärfe, konzentriert auf den Subtext, den die Musik beisteuerte, um die Bandbreite der Charakterzüge der Protagonisten von nervös-verzweifelt bis manisch obsessiv auf der Bühne diffizil zu beschreiben. Und kam der bestens disponierte Sächsische Staatsopernchor dazu, gewann der Klang noch an monumentaler Bildhaftigkeit.

Sergey Polyakov als Hermann sang mit hellem und selbst in den Höhen kraftvollem Tenor und bereitete dem Publikum im Laufe des Abends berauschende Momente. Vida Miknevičiūtė als Lisa verfügt über einen höhensicheren Sopran mit einem Timbre, das lyrische Momente heraufbeschwört, so hoffte man. Der schwedische Bariton John Lundgren hätte eigentlich nicht singen dürfen. Tapfer hangelte er sich durch, um als Graf Tomskij die Aufführung nicht zu gefährden. Vornehmheit und Zurückhaltung sind die Charaktereigenschaften der Figur des Fürst Jelezkij, die der Bariton Christoph Pohl in seiner Darstellung verkörperte. Seine Liebesarie sang er mit samtenem Klang, voller Verzweiflung und Leidenschaft.

Die eigentliche Rettung der Premiere überquerte im Rollstuhl die Bühne. Evelyn Herlitzius als Gräfin in schrillem Rosa und Glitzer, so abgeklärt und lebenssatt und doch unverbraucht sehnend nach dem Vergangenen, das sie ein letztes Mal aufblühen lässt. Diese Botschaft sprach aus ihr mit jedem Ton, mit jeder Regung, eine Grande Dame der Bühne und als könne sie die anderen in ihren Bann ziehen, gelang auch den weiteren Protagonisten ein Finale, das Gänsehaut erzeugte. Plötzlich wirkte die Rotunde wie eine magische Welt, die mit Licht und Schatten sichtbar machte, wie es um das Seelenleben der Protagonisten bestellt ist, weil Dresen sie nicht in sein Korsett der fremdgesteuerten Figuren steckte, sondern ihnen Raum gab, sich nach der Seelenlage der Musik auszudrücken. Und das Premierenpublikum jubelte.

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Kritik von Christiane Franke

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