> > > > > 23.09.2023
Samstag, 9. Dezember 2023

Szenenfoto, Copyright: Jaro Suffner

Szenenfoto, © Jaro Suffner

Die Komische Oper Berlin bringt Henzes Medusa-Oratorium zum Flughafen Tempelhof

Verloren in den Fluten

Die Komische Oper Berlin, seit dieser Saison wegen der Sanierung ihres Stammhauses in der Stadt unterwegs, macht für die Eröffnungspremiere Station im ehemaligen Flughafen Tempelhof. Im  überdimensionalen Hangar 1 wird das szenische Oratorium „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze gespielt. Es schrieb Geschichte, weil es dem veranstaltenden NDR in der aufgeheizten Stimmung der 68er einen Skandal mit Polizeieinsatz bescherte. Ein Che Guevara-Poster und eine rote Fahne auf der Bühne lösten Tumulte aus, die Uraufführung musste abgesagt werden und ersatzweise wurde nur die Generalprobe gesendet. 2023 bringen solche Requisiten niemanden mehr auf die Palme, der Stoff jedoch hat uns heute noch viel zu sagen. Er behandelt eine historische Begebenheit, den Schiffsbruch der französischen Fregatte Medusa anno 1816, die vor Senegal kenterte. Dorthin war sie aufgebrochen, um die ehemalige Kolonie von den Briten zu übernehmen. Die meisten Passagiere, darunter Kinder und Frauen starben bei dem Unglück, erwiesenermaßen wegen Versagens des Kapitäns. Basierend auf diesem Ereignis kreierte der Franzose Théodore Géricault nach der Aussage zweier damals Überlebender das naturalistische Gemälde „Le Radeau de la Méduse“. Regisseur Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier rekonstruieren es zum Auftakt als Tableau vivant inmitten eines bühnenfüllenden, das Meer imaginierenden Wasserbeckens. Darauf schippert Idunnu Münch, geschützt durch eine Rettungsweste, in einem knallroten Schlauchboot, als weiblicher Charon, der Fährmann vor dem Hades in der griechischen Mythologie. Sie erzählt und kommentiert mit viel Empathie das Geschehen dieser Reise, die unbeschwert beginnt. Die Gesellschaft verlustiert sich in den Fluten, sie schwimmt, planscht, lässt sich auf Gummibooten treiben, dann kommt der Crash. Aus Planken wird ein Floß gebaut, auf dem sich alle drängen. In beklemmenden Bildern zeigt Kratzer den hoffnungslosen Kampf der Schiffsbrüchigen um einen Platz auf den Brettern. Besonders eindringlich: das Ertrinken zweier Knaben, die sich, bevor sie untergehen, zu einem lyrischen Duett finden. In kleinen Gruppen gehen die an Hitze, Hunger und Durst Gestorbenen ins Nichts ab, ins Publikum, das auf zwei gegenüber liegenden Tribünen sitzt. Am Ende öffnet sich ein Tor nach draußen und die wenigen Überlebenden schreiten langsam ins Freie, hinter einem Ambulanzwagen her, auf dessen Rückseite „Follow me“ steht – eine ungemein starkes Finale. Im Programmheftinterview betont Kratzer das Universelle des Stoffes, doch Assoziationen zu aktuellen Tragödien auf dem Mittelmeer und in Lampedusa stellen sich zwangsläufig ein. Nicht zu vergessen: neben dem Hangar leben derzeit um die 800 Geflüchtete in einer Gemeinschaftsunterkunft. Auch musikalisch wird das Oratorium zum Ereignis. Der Dirigent Titus Engel führt das an der Seite platzierte Riesenorchester souverän durch die komplexen Klippen, durch Zwölftonreihen, Reibungen und pulsierende Rhythmen. Gloria Rehm als La Mort im schwarzen Abendkleid singt die Extreme ihrer Partie mit bewunderungswürdiger Makellosigkeit, Günter Papendell setzt als Matrose seinen warmen Bariton entgegen. Unglaubliches leisten der Chor der Komischen Oper, das Vocalconsort und der Staats- und Domchor Berlin, ein Kollektiv, das an szenischer Risikobereitschaft und vokaler Wandlungsfähigkeit nicht zu überbieten ist.

Der Beifall nach der ausverkauften Vorstellung ist heftig und ausgiebig. Die Komische Oper reagiert auf den Ansturm mit zwei Zusatzvorstellungen „Das Floß der Medusa“ hat anscheinend einen Nerv getroffen.

Kritik von Karin Coper

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