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Szenenfoto Hamlet, © Monika Rittershaus
Ambroise Thomas' Hamlet in Berlin
Être ou ne pas être
„Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage“: Natürlich kommt diese berühmteste Zeile der gesamten abendländischen Theatergschichte auch in Ambroise Thomas‘ fünfaktiger Grand Opéra „Hamlet“ (1868) prominent vor. Hier allerdings als Arie „Être ou ne pas être“, gesungen vom jungen britischen Bariton Huw Montague Rendall, als Zwiegespräch mit dem Schädel von Yorick, dem ehemaligen Hofnarren.
Am Ende dieser Premiere an der Komischen Oper Berlin gab es großen Jubel von allen Rängen, nach der Wahnsinnsarie von Ophélie sogar ekstatisches Bravo-Geschrei, weil die amerikanische Sopranistin Liv Redpath aus dieser Mammutszene wirklich ein Koloraturereignis erster Güte gemacht hat, bei dem man als Zuhörer gebannt den Atem anhielt, als Redpaths‘ Stimme mit lyrischer Leichtigkeit in die höchsten Höhen kletterte und dort schwebend hängen blieb. Womit schon mal zwei Hauptgründe genannt sind, sich diesen „Hamlet“ anzuschauen: Diese beiden Nachwuchssänger in den zentralen Rollen sind eine Wucht. Und eine echte Bereicherung des Repertoirealltags der hiesigen Opernszene.
Dazu kommt als drittes Highlight die junge französische Dirigentin Marie Jacquot, die es schafft, die unendliche Farbenvielfalt von Thomas‘ Partitur – wo mit klangmalerischer Genitalität Schauerstimmungen wie der Auftritt des Geistes (Hamlets verstorbener/ermordeter Vater) ausgemalt werden – plastisch und leuchtend mit dem Orchester nachzuzeichnen. Mag sein, dass Jacquot ab und an der Drive vorwärts etwas fehlte (bei den teils sehr langen Generalpausen), aber ich habe das Orchester des Hauses schon lange nicht mehr so grandios spielen gehört, und zwar in allen (!) Instrumentengruppen, die hier vor und hinter der Bühne für Raumwirkung sorgen. Es ist schließlich eine Grand Opéra, wo sämtliche Klangregister gezogen werden, wenn Chöre aus dem Off erklingen, Fanfaren von links, von rechts, Harfen aus dem Nichts wie ein Hauch herüberwehen usw. Das ist eine Freude zu hören, von Anfang bis Ende. Ebenso der Chor mit Trinkliedern, Triumphmärschen, Bauerngesängen und ähnlichem. Ganz fabelhaft und textlich präsent auf Französisch (Einstudierung: Jean-Christophe Charron).
Wenn meine Begeisterung für dieser Opernausgrabung trotzdem gedämpft ist, dann liegt das an der Regie von Nadja Loschky, seit 2019 künstlerische Leiterin des Musiktheaters in Bielefeld und designierte Intendantin des dortigen Hauses. Sie verlegt die auf Schloss Helsingör in Dänemark spielende Geschichte in eine Art Hotellobby mit großer Treppe links, Galerie oben in der Mitte und einem Durchgang zu einem Ballsaal-mit-Kronleuchter darunter. Rechts ist eine gigantische Tür, die irgendwohin führt. Alles ist in Weiß und Bordeauxrot gehalten. Und sieht weitgehend „heutig“ aus (Bühnenbild: Etienne Pluss, Kostüme: Irina Spreckelmeyer).
Nur Hamlet als Prinz von Dänemark läuft in einem hellgrauen Schlafanzug herum – schick und leger als Freizeitoutfit. Dazu kommen noch verschiedene Totengräber als graue Beamte mit Schirm, Charme und Melone, die aussehen, wie von René Magritte gezeichnet. Sie steigen während des Vorspiels aus den Gräbern, später sieht man sie surreal ohne Köpfe umherstolzieren. Auch à la Magritte. Vorm Vorspiel tritt allerdings Yorick als Narr auf (Kjell Brutscheidt) und singt à capella einen englischen Kinderreim. Wieso … wer weiß das schon? Dass es die Wirkung der stimmungsvollen Ouvertüren-Musik von Thomas zerstört … wen kümmert’s?
Was genau der Narr und die Magritte-Männchen darstellen, bleibt vage. Ebenso die Frage, wieso fast alle Charaktere Doppelgänger haben. Es scheint, dass die Regisseurin immer dann, wenn ihr nichts einfiel, was auf der Bühne während einer Arie oder eines Duetts passieren könnte, die Doppelgänger losschickt. Da ihr auch sonst nicht so wahnsinnig viel eingefallen ist, wie man die teils schematisch konstruierten Handlungselemente einer Grand Opéra sinnvoll einsetzt, plätschert vieles einfach vor sich hin. Irgendwann reißt Hamlet die weißen Wände mit einer Spitz-Axt ein, überall quillt braune Erde hervor und am Ende ist der Lobbyraum des Hotels Helsingör mit Bergen mit Erde überfüllt. Als Zeichen des zunehmenden Verfalls im Staate Dänemark?
Wie man auf all das reagiert, hängt von der eigenen Erwartungshaltung ab. Ein eingefleischter Fan französischer Opern sagte mir in der Pause, er gehe nach Hause, weil er diese szenische Einfallslosigkeit nicht mehr ertrage. Meine 80-jährige Mutter hingegen meinte am Schluss: „Ich fand’s toll, mal was anderes. Die Geschichte war sehr spannend, und die Musik ist schwungvoll, hat mir wirklich gut gefallen.“
Wenn man die Untertitel mitlas, erkannte man tatsächlich, was für einen Thriller Thomas bzw. seine Librettisten Carré und Barbier auf Basis von Shakespeare präsentieren. Es geht um Mord, Rache, hoffnungslose Liebe, Wahnsinn, Selbstmord, noch mehr Wahnsinn und noch mehr Mord. Am Schluss stirbt Hamlet übrigens nicht, sondern wird zum neuen unglücklichen König von Dänemark ausgerufen. Jubel, Trompeten, Elend, Einsamkeit, Schluss. Daraus hätte ein Regisseur wie Ryan Murphy eine ganze Staffel „American Horror Story“ bauen können (wo es ähnliche Optiken zu bestaunen gibt, aber besser bespielt), auch die „Game of Thrones“-Macher oder alles in die Richtung hätte aus dem Libretto mehr Drama rausgeholt, als es Loschky tut. Sie vertraut offensichtlich allem, was nach „Handlung“ und „Handlungslogik“ aussieht nicht und nimmt sich teils selbst die Effekte: etwa, wenn der nachgestellte Mord am vorherigen König, durch die Theatergruppe am Hof, schon gespielt wird von den Doppelgängern, bevor Hamlet die Geschichte dann in einer großen Szene zur Theateraufführung selbst erzählt. Die damit ins Leere läuft. Und wenig Sinn macht (Dramaturgie: Yvonne Gebauer und Julia Jordà Stoppelhaar).
Wie gesagt, das Premierenpublikum schien sich daran nicht zu stören, es gab keine Buhrufe, nur allgemeinen Jubel. Die verschiedenen kritischen Stimmen, die ich hörte, gingen einfach schnellstmöglich nach Hause. Andere zeigten sich erfreut, mit diesem Thomas-Werk mal wieder eine wirkliche Opernausgrabung in Berlin erleben zu dürfen, die insgesamt wunderbar besetzt ist. José Simerilla Romero ist ein fesselnder Laërte (der Bruder von Ophélie), Johannes Dunz und Frederic Jost brillieren als Hamlets Freunde Marcellus und Horatio, Karoline Gumos als Königin Gertrude (Hamlets Mutter) bietet grandiose Mezzotöne. Dann sind da noch Ferdinand Keller und Ferhat Baday als imposante Totengräber sowie Jens Larsen als Geist des Vaters, der wirklich gespenstisch röhrt. Positiv erwähnenswert ist auch Stephen Bronk als Polonius (Ophélies Vater), der sich hinter der ehrenwerten Fassade des biederen Hofbeamten als Mitmörder von Hamlets Vater entpuppt. Daneben ist Tijl Faveyts als dumpf klingender König Claudius (Hamlets Onkel und neuer Stiefvater) mit beängstigenden Intonationsschwierigkeiten ein verzeihlicher Ausfall.
Ich persönlich finde es bedauerlich, dass Loschky so wenig Interesse an dem Thriller zeigt, den sie auf die Bühne hätte bringen können. Dennoch gab es – auch mit den Doppelgängern – einige magische Momente, etwa wenn Lorenzo Soragni und Ana Dordevic als Double von Hamlet/Opélie im 4. Akt jene Liebesszenen ausspielen, die sich Ophélie so sehr gewünscht hätte, die das Schicksal ihr aber verwehrt. Weswegen sie zunehmend den Verstand verliert. Ehrlichgesagt hätte ich gedacht, dass gerade eine Frau und Feministin als Regisseurin hier mehr zu erzählen hätte zum Thema Verlassenwerden und Liebesschmerz einer Figur wie Ophélie, als nur ein hübsches Pastoralballett umzusetzen (zu dem Thomas Musik im Stil von „Coppélia“ komponiert hat, also sehr wirkungsvolle Klänge). Aber wenigstens sorgt Redpath dafür, dass dieser 4. Akt zu einem vokalen Großereignis wird. Und hübsch anzusehen sind Soragni/Dordevic ohne jeden Zweifel.
Huw Montague Rendall ist genauso „hübsch“ anzusehen mit seinen langen blonden Locken, seinem trainierten Oberkörper im weißen Doppelripp-Unterhemd und mit seinem weich timbrierten Bariton mit guter Höhe und somnambuler Bühnenpräsenz. Bei ihm hätte ich mir manchmal nur gewünscht, er würde auch mal etwas weniger verträumt agieren und dramatische Akzente setzen, um das Geschehen zuzuspitzen (wie das einst Thomas Allen tat, von dem es eine Aufnahme gibt, wo Hamlet deutlich „kerniger“ klingt). Aber dieser Einwand ist nur eine Fußnote, weil es eine Freude ist, Montague Rendall zu erleben. Übrigens zum ersten Mal wieder in Berlin, seit seinem Marcello in Koskys „La Boheme“ in Vor-Corona-Zeiten.
Bislang läuft der Vorverkauft für „Hamlet“ schleppend. Es wird spannend sein zu sehen, welche Meinung der Premierenbesucher sich in der Stadt durchsetzen wird und ob noch ein Run losgeht. Manche sprechen überschwänglich vom Highlight der Saison und von der besten Produktion seit langem. Andere sind, wie erwähnt, entnervt geflüchtet vor einer Inszenierung, die definitiv an Stellen fragwürdig (und belanglos) ist. Wieder andere erfreuten sich an der aufregenden Story und an der Chance, diese wunderbar frische und eingängige Musik live zu erleben, mit einer Dirigentin wie Marie Jacquot. Das Stück lohnt in jedem Fall das Kennenlernen, finde ich. Weswegen ich unbedingt noch einmal reingehen möchte. Spannend wird dann auch sein zu sehen, wie ein Publikum, das nicht aus geladenen Premierengästen besteht, auf diesen „Hamlet“ und auf Nadja Loschkys Regiedebüt an der Behrenstraße reagiert. Immerhin kann man ihr zugute halten, dass sie bei aller Schauerromantik immer wieder für skurril-komische Momente sorgt, die als Auflockerung willkommen sind. Damit ist sie vermutlich näher bei Shakespeare als bei Carré/Barbier. Aber sei’s drum, dreieinhalb Stunden Todesernst passen auch nicht wirklich ins Hier und Heute.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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