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DSO-Ehrendirigent Kent Nagano, © Antoine Saito
Kent Nagano macht das Stück unverbraucht neu erfahrbar
Brahms' Deutsches Requiem in der Bremer Urfassung
Die Idee, in der Karwoche Brahms‘ „Ein deutsches Requiem“ zu spielen, ist immer eine gute und naheliegende. Allerdings war es weit weniger naheliegend, tatsächlich einmal die Bremer Fassung zu spielen, also die Version, die am Karfreitag 1868 – einem 10. April – tatsächlich in Bremen zur Uraufführung kam. Denn das war nicht die heute allseits bekannte Form. Stattdessen existierten damals nur sechs Sätze, das berühmte und berührende Sopransolo „Ihr habt nun Traurigkeit“ war noch nicht komponiert. Mehr noch: Die sechs Sätze wurden 1868 in zwei Dreierblöcke geteilt, zwischen dem ersten und dem zweiten spielte Brahms’ Freund Joseph Joachim auf der Geige kurze Stücke von Johann Sebastian Bach („Andante“ aus dem Violinkonzert a-Moll) und Giuseppe Tartini („Andante“ aus dem Violinkonzert B-Dur) zur Auflockerung. Als drittes Stück, das Brahms gegenübergestellt wurde, hörte man noch Robert Schumanns „Abendlied“ in einer Bearbeitung für Geige. Begleitet wurde Joachim bei diesem Intermezzo damals von der Orgel. Nach dem zweiten „Requiem“-Block hörte man im Anschluss an „Selig sind die Toten“ abermals Bach, diesmal das Alt-Solo „Erbarme dich“ aus der „Matthäuspassion“, gesungen von Joachims Gattin Amalia, diesmal mit Orchesterbegleitung.
Es folgten drei Stücke aus Händels „Messias“, nämlich der Chor „Kommet her und seht das Lamm“, die Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ und zum Schluss der spektakuläre „Halleluja“-Chor. Diese Ergänzungen empfand man als notwendig, weil Brahms in den von ihm ausgewählten Texten zum „Deutschen Requiem“ nirgends den Namen des Heilands erwähnt – das schien 1868 am Karfreitag besonders unpassend. (Und Brahms hatte sich geweigert, etwas entsprechendes nachzukomponieren.)
Wer nun glaubt, die diversen Extras würden Brahms‘ „Requiem“ kaputt machen oder gar die Konzentration stören, wird von der Aufführung des DSO unter Kent Nagano eines Besseren belehrt. Denn es ist genau wie Clara Schumann vorhersagte: Man brauche bei großen Werken zwischendurch eine Verschnaufpause. Und so funktionierten die ersten drei Geigenstücke wirklich wie eine Verschnaufpause nach der Intensität der ersten drei Chorstücke, die die jungen Sänger der Audi Jugendchorakademie mit meisterhafter Diktion und Ausgestaltung (Einstudierung: Martin Steidler) zum Großereignis gemacht hatten. Die Intensität wurde noch einmal gesteigert, als Bariton Konstantin Krimmel sich in einer Mischung als Mitte-Hipster und moderner Prophet mit „Man Bun“ am Hinterkopf, Vollbart und schwarzem Superslim-Anzug mit größtmöglichem Ernst erhob und sentenzenhaft sang: „Herr, lehre auch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat!“
Ich habe selten so gebannt einem Bariton zugehört wie Krimmel, dessen hell-kernige Stimme sich eindringlich in die Gehörgänge bohrt und der es schaffte, einen Ernst zu vermitteln, der ganz dicht am Text blieb – und aus der Musik nie eine x-beliebige Shownummer unter vielen machte. Es ergab sich das Gefühl des Besonderen. Ja, Einzigartigem und Dringlichen. Also stünde da eine Greta Thunberg und würde vor der Klimakatastrophe warnen.
Diese Dringlichkeit vermittelten auch die Chorsänger, mit „weißen“ Stimmen, die eine Frische des Ausdrucks hatten, eine Unmittelbarkeit des Erlebens. Da stand kein Profi-Chor, der das Werk schon hunderte Male gesungen hat, sondern Menschen auf Entdeckungsreise, von Nagano am Pult animiert, so detailliert wie möglich zu gestalten. Über einem warmen Klangteppich, den das DSO mit geradezu verführerischer Klangschönheit ausbreitete – eine Klangschönheit, die perfekt zum Trost passt, den Brahms mit diesem „Requiem“ vermitteln will.
Mag sein, dass andere Chöre in den hohen Stimmlagen opernhaft abgerundetere Töne bieten, die in ihrer Honigsüße auch gut zu Brahms‘ Trost-Momenten passen; aber hier wirkte der Kontrast und das bewusste Vermeiden von Süßlichkeit wie eine Neuentdeckung des Werks. Das gilt auch für die drei Geigenstücke, die Marina Grauman von der Orgelempore der Phiharmonie herab spielte. Sie erlaubten dem Hörer, sich zu sammeln, über das gerade Gehörte von Brahms nachzudenken, es zu verarbeiten, bevor es weiterging.
Als dann im zweiten Brahms-Teil Krimmel-der-Hipster-Prophet sich abermals mit einer unfassbaren Konzentration erhob und ansetzte mit seiner Verkündigung, dass er „ein Geheimnis“ mitzuteilen habe („Wir werden nicht alle entschlafen“), hatte das fast etwas Schockierendes. Auch hier nicht einfach schöne Töne – die teils auch dramatisch anschwellen konnten und auf eine interessante weitere Karriere von Krimmel deuten –, sondern „Botschaft“: bei Krimmel, Nagano, dem DSO und der Audi Jugendchorakademie ging es um etwas. Um etwas Wichtiges.
Das wurde nochmals unterstrichen, als dann „Erbarme dich“ von Bach folgte, geradezu hyperausdrucksvoll gesungen von Rachael Wilson. Mir persönlich war ihr Gesang irgendwann zu viel – zu viele angeschobene Töne, zu viel Expression, too much von allem. Aber es war dennoch wirkungsvoll, ohne Frage, wenn sie immer wieder „Mein Gott“ geradezu flehentlich seufzte. Also das tat, was Brahms verweigert hatte.
Nach allem, was man an diesem Abend in der Philharmonie zu hören bekam, wirkte der „Halleluja“-Chor am Schluss dann verblüffenderweise nicht wie ein Happyend. In dieser Bearbeitung von Mozart wirkte das Orchester und der Chor derart zurückhaltend, dass der Knalleffekt, den man von anderen Wiedergaben kennt, gänzlich ausblieb. Man könnte argumentieren, dass das zur Karwoche passt, hier kein Busby-Berkeley-Finale ranzuhängen; es zwingt den Hörer nachzudenken, statt sich einem ekstatischen Schlussgesang optimistisch hinzugeben. Auf mich wirkte es trotzdem ein bisschen wie ein Anti-Klimax, gerade weil vorher so viel Aufregendes und Anregendes zu hören und zu sehen war.
Nagano entpuppte sich bei Brahms als großartiger und genauer Dirigent dieser Partitur. Natürlich fehlte das Sopransolo, irgendwie. Aber Nagano brachte mit dem DSO das „Deutsche Requiem“ nach so unendlich vielen Aufführungen der Standardversion tatsächlich noch einmal ganz frisch zu Gehör. So dass auch die Botschaft des Stückes völlig unverbraucht 'rüberkam. Das gesamte Ensemble auf dem Podium (inklusive Jakub Sawicki an der Orgel) wurde vom Publikum gefeiert. Dass die Philharmonie restlos ausverkauft war, zeugt davon, dass das Interesse an solche Entdeckungsreisen in Berlin groß ist. Oder dass der Ex-Gebirgsjäger Konstatin Krimmel schon jetzt in der Hauptstadt eine Fangemeinde hat. Nagano als ehemaliger DSO-Chef und heutiger Ehrendirigent des Orchesters hat eine solche Fangemeinde natürlich auch. Jedenfalls war dieses Konzert, mit einem Wort zusammengefasst: fantastisch!
Und nur der Vollständigkeit halber: Die Fassung, die heute alle kennen, mit Sopransolo, kam im Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus öffentlich zu Erstaufführung.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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