Concergebouw Orchestra Amsterdam (2018), © Simon van Boxtel
Gardiner dirigiert Brahms
Helldunkles Fließen
Wenn eine lebende Legende der historisch informierten Aufführungspraxis auf ein modernes internationales Spitzenorchester trifft, ist für Spannung gesorgt. Wer an diesem Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie bei den Sinfonien Nr. 2 und 4 von Johannes Brahms (1833-1897) mit geschlossenen Augen lauschte – und dazu gab es reichlich Gelegenheit –, hätte zuerst jedoch wohl auf einen groß besetzten Originalklangkörper getippt, so sehr glänzte, funkelte und wirbelte es in aller transparenten Schlankheit. Das Orchester jedoch war das erweitert kammerorchestral besetzte Royal Concertgebouw und der Dirigent Sir John Eliot Gardiner. So ließ sich eindrucksvoll erleben, wie sehr ein Dirigent dazu in der Lage sein kann, die Klangästhetik eines Orchesters zu gestalten. Himmlisch leicht, aber dabei nicht körperlos, klang bereits die thematisch zentrale eröffnende Dreitongeste der D-Dur-Sinfonie in den sechs Kontrabässen, die in der Mitte hinten standen (also der deutschen Orchesteraufstellung entsprechend). Von durchweg ätherisch seidiger Wärme war der berühmte Streicherklang des Concertgebouw Orchesters, wovon man sich vor allem im fließenden „Adagio non troppo“ ein Bild machen konnte. Wo romantisierende Deutungen hier oft schleppend bis schwerfällig klingen, entstand in den Celli das klanglich einnehmende Paradox eines melodischen Schwebens in der Schwere.
Trotz der allgemeinen Schlankheit in Klang und Phrasierung ging an Präsenz jedoch nichts verloren, im Gegenteil. So lief das Orchester im finalen „Allegro von spirito“ regelrecht heiß und entfesselte eine Wucht, die geradezu körperlich spürbar war. Hatte Gardiner es im Kopfsatz der Sinfonie Nr. 2 bei gemäßigten Tempi noch ruhig angehen lassen, wiederholte Exposition inklusive, zog er in der e-Moll-Sinfonie die Zügel dann spürbar an und verzichtete hier auf die entsprechende Wiederholung und ein Innehalten im stetigen Fließen. Dies entsprach nicht nur der stetig vorwärtsdrängenden Großform, sondern ebenfalls der Tendenz der historisch informierten Aufführungspraxis, bei Brahms auf zeitliche Schwankungen wie etwa Ritardandi möglichst zu verzichten, um die dieser Musik innewohnende strukturelle Linearität stärker zum Vorschein zu bringen. Auf diese Weise konnte man hier das für Brahms typische Prinzip der entwickelnden Variation in der Entstehung miterleben, ohne dabei auf die Expressivität verzichten zu müssen. Tatsächlich bewies Gardiner auch in der finalen Passacaglia Sinn fürs Dramatische und ließ die Streicher mitunter schneidend scharf agieren, während die Pauke voll reinhaute. Komplett historisch informiert war auch dieser Abend aber nicht ganz, so durften die Streicher wohl dosiertes Vibrato einsetzen.
Dank der klaren Akustik der Elbphilharmonie wurde somit offenkundig, wie extrem dicht vor allem die Vierte gearbeitet ist. Wo es in romantisierenden Interpretationen gerade im Kopfsatz manchmal poltert, ergab hier plötzlich alles Sinn. Dementsprechend gab es am Ende stehende Ovationen für das Royal Concertgebouw Orchestra, vor allem aber für Sir John Eliot Gardiner, der mit seiner knappen, aber entschiedenen Gestik beim Dirigieren vollkommen vergessen ließ, dass er vor einigen Wochen 80 Jahre alt wurde.
Kritik von Dr. Aron Sayed
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