> > > > > 19.05.2023
Samstag, 3. Juni 2023

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Jonathan Tetelman, Sara Jakubiak, Copyright: Monika Rittershaus

Jonathan Tetelman, Sara Jakubiak, © Monika Rittershaus

Jonathan Tetelman in Francesca da Rimini

Objekt der Begierde

Man könnte sich natürlich fragen, was genau Paisley-Tapetenwände und ein Wintergarten mit Korbmöbeln, kombiniert mit moderner schwarzer Business-Kleidung bei den Figuren, die dort herumlaufen, mit der Geschichte von „Francesca da Rimini“ zu tun haben könnten? Die berühmte Ehebruchstory aus dem 13. Jahrhundert – von Dante in der „Göttlichen Komödie“ unsterblich gemacht, später von Boccaccio erweitert und im frühen 20. Jahrhundert von D’Annunzio zu einem Theaterstück für Eleonora Duse umgeformt, das dann 1914 die Basis für die Oper von Riccardo Zandonai war – spielt im kriegsgeschüttelten Italien, wo sich Familien und politische Lager brutal bekämpfen, wo über Hochzeiten Allianzen geschmiedet werden und wo ein christlich-patriarchaler Moralkodex das Leben von Frauen in Schranken hält. So auch das von Francesca aus der Familie der Polenta in Ravenna, die mit einem der Malatesta-Brüder verheiratet werden soll. Da der Bruder, um den es hierbei geht, missgeformt ist, wird sein attraktiver jüngerer Bruder Paolo als eine Art Brautwerber vorgeschickt. Francesca denkt, er sei der Bräutigam, verliebt sich sofort in ihn, willigt in den Ehevertrag ein – und muss dann feststellen, dass ihr wahrer Ehemann Gianciotto ist. Sie sinnt auf Rache, ist aber gleichzeitig hin und hergerissen wegen ihrer Gefühle zu ihrem Schwager Paolo.

Zwischen dramatischen Schlachten, dem überall lauernden Tod, Blut, Folter und Hofintrigen, finden Paolo und Francesca zusammen, bis sie von Gianciotto entdeckt werden und in einem Anflug von rasender Eifersucht im Schlafgemach getötet werden. Ein Doppelmord, vor der Kulisse von Weltpolitik. Und so aufsehenerregend, dass Dante die Seelen der Verstorbenen durch einen der vielen Höllenkreise irren lässt, auf der Suche nach Wiedervereinigung. Die Story würde nach wie vor einen perfekten Hollywood-Blockbuster abgeben.

Von der Geschichte haben sich unzählige Maler zu grandiosen Bildwerken inspirieren lassen, von Gustave Doré über Anselm Feuerbach bis zu Auguste Rodin. Mercadante hat eine Oper daraus gemacht, Rachmaninow ebenfalls, Liszt und Tschaikowsky malten das glühende Liebesdrama als Tondichtungen aus. Und Zandonai schuf, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die vielleicht berühmteste Musiktheaterfassung. Berühmt deshalb, weil später Sopranlegenden wie Magda Oliviero oder Renata Scotto die enigmatische Titelpartie nutzten, um das ganz ganz ganz (!) große Diven-Spektakel daraus zu formen. Und das braucht das Stück: eine Diva, die die Szene beherrscht und die Zerrissenheit von Francesca glaubhaft machen kann, ihre Sehnsucht nach „Frieden“ im Angesicht all der Grausamkeit um sie herum, aber auch ihre nicht zu bändigende Sehnsucht nach Liebe und körperlicher Vereinigung mit dem schönen Schwager.

Was hätte eine feministische Interpretation dieser Geschichte nicht alles zeigen können, ohne am Setting etwas zu verändern und ohne jegliche Notwendigkeit zur Aktualisierung? Und wie spannend wäre es gewesen, aus heutiger Sexismus-Debatte heraus betrachtet, dass hier der Tenor (also der Paolo-Darsteller) das Objekt der Begierde ist. Als attraktives Stück Fleisch und Spielball der Machenschaften seiner Brüder, als Stück Fleisch, dem Francesca nicht widerstehen kann, das sie sich schließlich einfach nimmt, als nicht zuletzt singendes Stück Fleisch, dem auch das Publikum verfallen soll.

Immerhin bietet die Deutsche Oper Berlin hier den neuesten Star am Tenorhimmel auf: Jonathan Tetelman. Der junge Amerikaner ist optisch und vokal eine Idealbesetzung für die Rolle, singt die Partie in der Höhe kraftstrotzend und phonstark, zwischendurch aber auch immer wieder zärtlich (soweit das nur auf Lautstärke fokussierte Dirigat von Ivan Repušić das zulässt). Tetelman sieht in seinem schwarzen Dreiteiler (mit weißem gebügeltem Hemd) und mit schwarzen Reitstiefeln aus, wie einer Werbung von Armani entsprungen. Genauso wie die anderen Hofleute von Gianciotto (allesamt Edelstatisten, die scheinbar in Kooperation mit einer Modelagentur gecastet wurden). Wieso diese Magic-Mike-artige Truppe mittelalterlicher Condottieri bei Christof Loy in einer neuzeitlichen Villa unterwegs sind – wer kann das schon sagen? Wieso alle Szenen (Schlachten, Schlafzimmer usw.) in einem Einheitsraum spielen und wieso nicht mal mit Beleuchtung versucht wird, eine kontrastierende Stimmung zwischen den Akten zu erzeugen, auch das bleibt Loys Geheimnis bzw. das seines Bühnenbildners Johannes Leiacker (Licht: Olaf Winter). Und wieso Francesca im Chanel-Mini rumläuft, mal Pelzmantel trägt, mal nur hautfarbenes Negligé (Kostüme: Klaus Bruns), bleibt am Ende auch ungeklärt. Es scheint, als hätte Christof Loy zu dieser konkreten Geschichte absolut nichts Besonderes zu erzählen. Und verlegt deshalb alles in irgendeinen Raum, wo irgendetwas stattfindet zwischen irgendwelchen Figuren, bei denen man (in der Personenregie) nicht genau weiß, was sie miteinander zu tun haben. Hauptsache: Alle singen möglichst laut. Das gilt besonders für Ivan Inverardi als Gianciotto und Charles Workman als den dritten Malatesta-Bruder.

Wo eigentlich Francesca im Mittelpunkt der Handlung stehen sollte, mit ihren unentwegten Gefühlsschwankungen, läuft Sara Jakubiak selbstbewusst aber unbeteiligt umher. Sie singt mit großen warmen Tönen, erschafft aber keine irgendwie greifbare Figur. Es scheint, als sei sie als Privatperson auf der Bühne neben Tetelman, für den das auch gilt. Als sich beiden in der berühmten Liebesszene des 3. Akts die Kleidung vom Leib reißen und halbnackt übereinander herfallen, ist das trotz der körperlichen Schönheit des Oben-ohne-Tenors fast ein Moment zum Fremdschämen, weil es so unsinnlich umgesetzt ist. Die Poesie von Zandonais Musik verpufft hier wie anderswo auch. Sieht so etwa Opernleidenschaft 2.0 aus?

Interessierte Opernfans werden all das natürlich geahnt haben, schließlich wurde die Produktion 2021 in einem der Corona-Lockdowns gestreamt (weil die Premiere nur ohne Publikum stattfinden konnte). Inzwischen ist auch eine DVD erschienen. Man wusste also, was zu erwarten ist. Dass die DOB mit zwei Jahren Verspätung diese Inszenierung nun als Publikumspremiere zeigt, ist wunderbar für alle, die solche italienischen „Superschinken“ lieben. (Ich zähle mich dazu.) Außerdem konnte man Tetelman jetzt endlich wieder live in Berlin hören, nach seinem „Boheme“-Auftritt an der Komischen Oper kurz vor Corona. Die Stimme von Jakubiak passt besser zu Korngolds „Das Wunder der Heliane“ (womit sie an der DOB triumphierte), statt zu solch einem Diven-Stück, das nuancierte Textgestaltung erfordert und eine andere Art von Attacke bei den Spitzentönen.

Die Folge: Der Zuschauerraum war bei dieser eigentlich glanzvoll besetzten Premiere an der Bismarckstraße auffallend leer. Kein Interesse, nicht mal von Seiten der vielen Touristen, die in der Stadt sind wegen des Himmelfahrtswochenende? Hat sich herumgesprochen, dass diese Loy-Inszenierung in jeder Hinsicht am Stückinhalt vorbeigeht und letztendlich vor allem eins ist: langweilig? Falls Corona im Opernbetrieb so etwas wie eine Zäsur darstellen sollte, dann ist diese „Francesca da Rimini“ sicherlich Repräsentant von einer Form von Regie, die es lohnt, hinter sich zu lassen im Rahmen eines Neustarts Kultur.

Trotzdem waren die wenigen Zuschauer, die da waren, am Ende extrem jubelfreudig und feierten das gesamte Sängerteam sowie den Dirigenten. Loy und seine Mannschaft waren nicht angereist, Loy inszeniert gerade in Salzburg „Orfeo ed Euridice“ von Gluck für die Festspiele. Ob da auch Paisley-Tapeten und Korbstühle zum Einsatz kommen werden, bleibt abzuwarten.

In Berlin sind bis Anfang Juni fünf „Francesca“-Aufführungen angesetzt. Für Tetelman-Fans, die seine Debüt-CD mit zwei „Francesca da Rimini“-Ausschnitten kennen, ist es eine wunderbare Gelegenheit, ihn live mit diesem Repertoire zu hören. Dass die Regie mit ihm auf der Bühne so wenig Interessantes anzustellen weiß, kann man zutiefst bedauerlich finden. Zandonais hierzulande eher unbekannte Musik lohnt trotzdem das Kennenlernen und passt, vom Format, ideal an die Deutsche Oper Berlin. Übrigens: Die Begleiterinnen von Francesca sind in jeder Hinsicht stimmlich exquisit besetzt, ebenso alle (!) Nebenrollen.

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Kritik von Dr. Kevin Clarke

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