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Dirigentin Oksana Lyniv, © Oleh Pavliuchenkov
Oksana Lyviv debütiert beim DSO in Berlin
Ausweitung der Kampfzone
Was war denn da plötzlich los? Beim DSO-Konzert mit Oksana Lyviv bildeten sich schon vorab an allen (!) Garderoben der Philharmonie lange Schlangen, und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis man seine Jacke irgendwo abgeben konnte. Was darauf hindeutete, dass dieses Konzert extrem gut besucht war – nahezu restlos ausverkauft. Weswegen sich die Frage aufdrängt: warum?
War es das populäre Programm mit dem 3. Klavierkonzert von Rachmaninov und der 8. Symphonie von Antonin Dvořák? War es Mao Fujita als Solist, neuerdings mit Exklusivvertrag bei Sony Classical? War es der Ukraine-Aspekt? Lyviv stammt aus der westukrainischen Stadt Brody, erhielt ihre Ausbildung in Lwiw, u.a. an der Musikhochschule Stanislaw Ljudkewytsch und arbeitete von 2008 bis 2013 an der Staatsoper Odessa, bevor sie Assistentin von Kyrill Petrenko in München wurde und 2021 in Bayreuth bei den Festspielen debütierte. Nicht zu vergessen, die „Elegie in memoriam Stanislaw Ljudkewytsch“ vom ukrainischen Komponisten Jewhen Stankowytsch (geb. 1942), die zu Sowjetzeiten 1979 in Kiew uraufgeführt wurde? Waren viele Besucher Feministinnen, die eine Frau am Pult unterstützen wollen? Oder: alles zusammen?
Fakt ist: Dieses DSO-Konzert erregte offensichtlich mehr Interesse als andere Auftritte des Berliner Klangkörpers, mit dem vielleicht nobelsten Streicherklang der Stadt. (Sorry, Berlin Phil!) Es ging los mit der „Elegie“, die Ljudkewytsch als Pionier der musikalischen Bildung und Volksliedforschung gewidmet ist. Ein absolut tonales Stück von großer Klangschönheit, nur für Streicher, das entfernt an die „Metamorphosen“ von Richard Strauss erinnert. Es zieht den Hörer quasi hinein in eine Melancholie der Klagegesänge, und es bietet ein imposantes Solo für die Violine, begleitete von zitternden Tremolo-Passagen in den 2. Geigen und Bratschen, die großen (verstörenden) Effekt machen. Solche durchaus pathetische Musik habe ich als Kind oft im DDR-Radio gehört – es war eine Freude, ihr hier nun wiederzubegegnen, weil sie auch heute ihre hochemotionale Wirkung nicht verfehlt. Und auch wenn Oksana Lyviv am Pult eher sperrig und verkrampft wirkte, entfalteten die Streicher des DSO einen berückenden Klang, dem ich stundenlang hätte lauschen können, statt nur zehn Stankowytsch-Minuten.
Danach kam Rachmaninovs Tastensuperspektakel op. 30. Ob das 3. Klavierkonzert „inzwischen das bekannteste unter den vieren, die er schrieb“ ist, wie Habakuk Traber im Programmheft behauptet, sei einmal dahin gestellt. (Dafür ihr die Reichweite des 1. Klavierkonzerts in die Popmusik und Filmwelt eigentlich viel zu groß.) Aber das d-Moll-Konzert ist ohne Zweifel ein Showstopper mit gigantischen Entladungen à la Hollywood (im besten Sinne) und mit einem Klavierpart, dem man als Zuschauer wie Hochleistungssport folgen kann.
Der 24-jährige Fujita saß in seinem schwarzen XXL-Hemd am Flügel wie eine Mischung aus Gollum und Glenn Gould. Und er verzichtete komplett auf jedes auftrumpfende Gehabe – dieser Rachmaninow war einfühlsam, elegisch, lyrisch. Die Klavierstimme verschmolz regelrecht mit dem Orchester, statt sich wuchtig darüber zu erheben. Das zu hören und zu sehen, war eine interessante Erfahrung. Fujita spielte bravourös, atemberaubend sogar. Sein Anschlag war durchweg zart – was vermutlich auf der Aufnahme für RBB Kultur wunderbar klingt (weil ohne jede Härte), aber live im Konzertsaal teils etwas in den Klangwogen unterging. Und: Wenn Rachmaninow zwischendurch wirklich das ganz ganz ganz große Herzschmerzkino bietet mit Geigeneruptionen, die einen wegfegen (zum Beispiel im Finale), dann blieb Lyviv deutlich hinter den Wirkungsmöglichkeiten zurück, traute sich scheinbar nicht, voll auszudrehen, sich hinzugeben, eine Entladung der Gefühle zu bieten. Genauso wie sie in den Momenten, wo Rachmaninow die Adrenalinschraube hochdreht in den rasanten Steigerungen komischerweise zurückhaltend dirigierte, statt überwältigende Cinemascope-Momente zu kreieren. Vielleicht hatte sie Angst, man könnte ihr „Kitsch“ vorwerfen? Oder „Sentimentalität“?
Als das Klavierkonzert endete, explodierte jedenfalls der Saal vor Begeisterung. Fujita wurde bejubelt und stand fast verdutzt mit abgeknickten Handgelenken vor der Brust da – in der Brandung des Applauses. Sein Ansatz, Rachmaninow wie Mendelsohns Feenmusik oder ein Nocturne von Chopin zu spielen, kann man definitiv interessant nennen. Das DSO begleitete hingebungsvoll.
Nach der Pause dann Dvořáks G-Dur-Symphonie von 1889. Lyviv verweigerte dem Stück jegliche irgendwie an Folklore erinnernden Klänge, stattdessen wurde die Partitur fast wie Maschinenmusik aus den 1920er Jahre exekutiert, was besonders im Finale beim Furiant wie Maschinengewehrsalven klang: hart, brutal, kalt. Das hatte nirgends etwas Liebeswertes (auch nicht im sehr lauten „Adagio“ oder „Allegretto grazioso“). Das kann man als Interpretation selbstredend diskutabel finden. Für mich hat dieser Ansatz allerdings die Schönheit der Musik zerstört, weil da – auch optisch – wenig Einfühlungsvermögen erkennbar war: Dvořák als Kampfhandlung und „musique concrète“. Ich würde mal sagen, das bleibt Geschmackssache.
Es gab großen Jubel. Dem Lyviv in einem Mulan-artigen schwarzen Karateoutfit (mit breiter brauner Bauchbinde) erst zu entfliehen schien, bis sie sich entspannter neu präsentierte und allen Orchestergruppen Einzelapplaus gönnte.
Abgesehen davon, dass sich beim Rausgehen nochmals endlose Schlangen an den Garderoben bildeten, war das offensichtlich ein Konzert, das hier und heute in Berlin maximalen Anklang fand. Mehr als andere DSO-Konzerte. Selbst wenn ich persönlich das nicht recht verstehen kann, nehme ich es zur Kenntnis. Und freue mich, denn es belegt die Relevanz, die klassische Musik haben kann und haben sollte.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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