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Samstag, 23. September 2023

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Alexander Tsymbalyuk in Boris Godunow, Copyright: Brinkhoff/Mögenburg

Alexander Tsymbalyuk in Boris Godunow, © Brinkhoff/Mögenburg

Feinsinnige Inszenierung zum Spielzeitauftakt an der Staatsoper Hamburg

Boris Godunow: Sprachlos und kalt

Frank Castorf sollte Mussorgskijs Oper „Boris Godunow“ bereits vor drei Jahren inszenieren. Wegen der Corona-Pandemie wurde die Produktion, die 15 Solisten (!), Chor und Kinder- und Jugendchor erfordert, verschoben. Jetzt ist dieses musikalische Volksdrama, das von Macht, Verrat und Verlust handelt, hochaktuell. Mussorgskij hatte seinen „Boris Godunow“ mehrfach überarbeitet. Frank Castorf entschied sich bei seiner Inszenierung für den 1870 vollendeten sogenannten „Ur-Boris“.

Modest Mussorgskijs Oper behandelt das überlieferte Scheitern des gleichnamigen Zaren. Historischer Hintergrund ist Iwan IV. (der Schreckliche), der erste Zar, der Russland geeinigt und das Land zu einer hochpotenten Militärmacht aufgerüstet hat. Sein Sohn und Nachfolger ist jedoch ein schwacher Herrscher. Nach dessen Tod befindet sich Russland in einer schweren Krise, aus der es Boris Godunow herausführen soll. Soweit die Historie, am Rande sei noch erwähnt, dass Iwan IV. der Zar ist, auf den sich seit Josef Stalin viele Machthaber in Russland berufen. 

Alexander Puschkin formt aus dem Stoff ein Drama, das zur Basis wurde für Mussorgskijs Oper. Der Komponist nahm wenig Eingriffe in die Vorlage vor und machte daraus ein unkonventionelles Werk, das keine klassische Dramaturgie mit logisch aufeinanderfolgenden Szenen und Akten kennt. Im Prinzip liegt ein großes episch-musikalisches Epos vor, das die historischen Ereignisse auf sieben Szenen verdichtet. Das zu inszenieren ist in der Tat alles andere als einfach, denn die Geschichte um Herrscher Boris und seinen Gegenspieler ist sehr komplex.

Gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Aleksandar Denić schuf Castorf einen monumentalen Turm, der aus Versatzstücken der Geschichte Osteuropas aus den letzten 500 Jahren bestand und die Möglichkeiten der Drehbühne geschickt ausnutzte. Mal gab es ein orthodoxes Gotteshaus mit Zwiebelturm, mal eine Kaffeebar, mal eine Bierkneipe.

Die Rückseite des Gebäudes im Stil des Sozialistischen Klassizismus, garniert mit Aspekten des Futurismus erwies sich als riesenhaftes U-Boot, dessen Zahlcode 9/17 vielleicht auf die Februarrevolution des Jahres 1917 verweisen sollte, die die Zarenherrschaft in Russland beendete. Im Innern gab es ein luxuriöses Büro mit Bildschirmen, wo Machthaber mit dem Schicksal der Welt agieren, wie mit den Kugeln auf dem roten Billardtisch. 

Andreas Deinert und Severin Renke schufen mit Videos und Live-Kameras auf zahlreichen Projektionsflächen eine zusätzliche Erzählebene, die eine emotionale Nähe zu Protagonisten erlaubte oder lieferten wichtige Informationen zur Handlung.

Das Inszenierungsteam um Frank Castorf lieferte auch ohne platten Aktualitätsbezug eine Sichtweise von einer erstaunlichen Tiefe. Die dargestellte Männerwelt, deren Machtgehabe zunehmend von Misstrauen und Paranoia bestimmt wird und ein Volk, das leider allzu oft den Machthabern hinterherläuft, die einfache Lösungen anbieten, das ist noch immer aktuell. 

Dass Frank Castorf mit seiner Herangehensweise das Publikum stellenweise überforderte, dürfte intendiert gewesen sein. Hochkomplexe Zusammenhänge können nicht einfach dargestellt werden, das Publikum wird aufgefordert, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ganz im Sinne von Bertolt Brechts epischem Theater. 

Dass diese Inszenierung so überzeugend und packend über die Bühne ging, ist auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Staatsoper Hamburg über ein exzellentes Sängerensemble verfügt. 

Kent Nagano bringt mit den Hamburger Philharmonikern die Partitur zum Funkeln und wird dabei unterstützt von dem gut präparierten Chor und zum großen Teil rollendeckend besetzten Solisten. Alexander Tsymbalyuk großartige gesangliche Performanz als Boris überzeugte ohne Abstriche. Darstellerisch wie vokal gelang ihm die glaubhafte Darstellung eines Zaren, der zwar durch Mord und Intrigen an die Macht gelangt ist, der aber noch soviel moralisches Gewissen besitzt, dass ihn seine Schuldgefühle in den Wahnsinn treiben. Das gibt es heute bei Diktatoren eher selten. Neben Tsymbalyuk beeindruckten Vitalij Kowaljow als väterlicher Pimen, Dovlet Nurgeldiyev als Dimitrij und Grigorij, Matthias Klink als intriganter Schuiskij, aber auch die Besetzung der weiteren zahlreichen kleineren Rollen überzeugte ohne Abstriche.

Hervorragend der Text im Programmheft von Patric Seibert, der unter vielen Aspekten nachdenklich macht, vor allem der abschließende Absatz: „Viele der Strategien und Konflikte aus Boris Godunow sind uns also wohlbekannt, vor allem, was die Varianten des Machtgewinns und Machterhalts angeht – und dies gilt beileibe nicht nur für Russland. Dennoch unterscheidet sich Boris in einem entscheidenden Punkt von den heutigen Potentaten: durch seine Skrupel. Nach wie vor wird Geld verschoben, intrigiert, manipuliert, verbannt und gemordet, aber ein Gewissen zu haben, das einem den Schweiß auf die Stirn treibt, Albträume verursacht, Psychosen hervorruft, das scheint außer Mode zu sein. Reue wird nicht gezeigt. Im Gegenteil, neuzeitliche Potentaten  überbieten sich an Zynismus und Gleichgültigkeit dem Volk gegenüber. Gewissen gilt als Karrierehindernis, Gottesfurcht als unmodern – außer natürlich zur publikumswirksamen Legitimation.“

Dass es Frank Castorf und seinem Team gelungen ist, eben genau dies zu vermitteln, macht das Großartige dieser Inszenierung aus. 

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Kritik von Michael Pitz-Grewenig

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