Musikverein Wien, © C.Stadler/Bwag CC BY-SA 4.0
Jewgenij Kissin im Wiener Musikverein
Premiere mit Bach
1990 war Jewgenij Kissin erstmals im Wiener Musikverein zu Gast, eine Premiere ist bei seinem Recital im Großen Saal dennoch zu erleben: Erstmals hat er, wie er in einem Interview erzählt, mit der Chromatischen Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903 ein „reinrassiges“ Werk von Johann Sebastian Bach, also keine Bearbeitung, im Programm. Zum fünften Mal erst spielt er es an diesem Abend öffentlich. Bis er sich damit wirklich wohl fühlt, hat er sich Zeit gelassen, das Warten hat sich gelohnt: Die präludierenden Arpeggien zu Beginn sind von sublimer Klarheit ohne verschleiernden Pedalgebrauch. Mit prägnanter Phrasierung und signifikanten agogischen Zäsuren gestaltet er im weiteren Verlauf die Fantasie aus. Mit hoher kontrapunktischer Kompetenz lässt er die motivische Verarbeitung in der Fuge plastisch hervortreten, ein wenig mehr stimmliche Impulse könnte er allenfalls im Bass geben. Eine hoffnungsvolle Aussicht auf zukünftig gerne mehr Bach in seinen Programmen.
Chopin als Statement
Mit luftiger Spielfreude und funkelnden Alberti-Bässen spielt er den Kopfsatz von Mozarts D-Dur-Sonate KV 311 und überrascht dabei mit der Wiederholung der Durchführung. Im Mittelsatz hebt er mit warm gefärbten, exponierten Einzeltönen die Oberstimme hervor, besondere gesangliche Intensität verleiht er dem zweiten Thema. Vitale Spritzigkeit und glasklare Ornamentik hat das „Rondeau“ bis zum abrupt-impulsiven Schluss. Massive Akkordwucht und melancholisches Pathos bis in die heroischen Kraftausbrüche der aufbrausenden Unisono-Skalen bestimmen den Tonfall der Polonaise fis-Moll op. 44, sehnsuchtsvolle Melancholie verbreitet der lyrische Mittelteil. Auch ein politisches Statement ist dieses Werk in seinem Programm, wie er im Künstlergespräch nach dem Konzert verrät: In Analogie zur von Chopin musikalisch thematisierten russischen Aggression gegenüber dessen Heimatland, positioniert Kissin sich damit musikalisch gegen den aktuellen russischen Angriffskrieg.
Rachmaninoff de luxe
Die zweite Programmhälfte gehört vollständig Rachmaninoff. Mit der gewohnten technischen Makellosigkeit und Klangsensibilität gestaltet er die Liedtranskription von „Flieder“ op. 21/5, mit schlanker Noblesse perlen die kaskadenartigen Akkordbrechungen. Ein flackerndes Leuchten durchzieht das Prélude a-Moll op. 32. Eindringlich hebt er die markant singende Oberstimme des Ges-Dur-Préludes op. 23/10 hervor. Er folgt eine Auswahl aus den Études-tableaux op. 39. Gewaltig aufgetürmte, sauber getrennte Klangschichten formt er zu angespannter Expressivität in der c-Moll-Etüde, scharf geschnittenes Diskantprofil verleiht er der elegischen Melodik in op. 39/2. Kraftvoll-zwingende Akzentuierung beherrscht die Etüde h-Moll op. 39/4, voluminöses Pathos op. 39/5. Spannungs- und emotionsgeladene Akkordfülle verleiht er zum Abschluss des offiziellen Programmteils op. 39/9. Für stehende Ovationen bedankt sich Kissin beim Wiener Publikum mit drei Zugaben – und bleibt damit bei Rachmaninoff: „Melodie“, „Serenade“ und „Prélude“ aus den „Morceaux de fantaisie“ op. 3 sind an Anschlagspräzision und musikalischer Intensität kaum zu übertreffen. Ein Rachmaninoff-Paket de luxe. Und wie jedes Kissin-Recital: Ein Klaviererlebnis, das man nicht vergisst.
Kritik von Oliver Bernhardt
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