Szenenfoto, © Monika Rittershaus
Der BE-Star brilliert an der Seite von Tom Erik Lie als Zaza
Big Bang: Tilo Nest in La Cage aux Folles
Als Barrie Koskys Produktion des Broadway-Klassiker „La Cage aux Folles“ an der Komischen Oper Berlin in Premiere ging, waren sich fast alle Kritiker einige, dass neben der opulenten Ausstattung (Rufus Didwiszus/Klaus Bruns) und Choreographie (Otto Pichler) vor allem der Darsteller der zentralen Rolle das Ereignis war: Schauspieler Stefan Kurt als Drag-Artist Zaza. Mit Kurt und Operntenor Peter Renz an seiner Seite als Lebenspartner, Nachtclubbesitzer Georges und als Vater des gemeinsamen Sohns Jean-Michel, läuft dieser „Käfig voller Narren“ seit Ende Januar als „hottest ticket“ in Berlin.
Nun trat zur dritten Vorstellung erstmals die Zweitbesetzung an, um die das Haus kein besonderes Aufheben gemacht hat. Was erstaunlich ist, denn sie bietet echte Sensationen. Denn Kosky hat den Mr. Peachum seiner gefeierten „Dreigroschenoper“-Inszenierung am Berliner Ensemble an die Komische Oper geholt – und so erlebt man Theaterstar Tilo Nest als Georges. Das ist in jeder Hinsicht ein Gegenentwurf zu Renz. Hier singt jemand nicht schön mit süßlichen Operettentönen und spielt die Rolle des Nachtclubbesitzers nicht mit rührender Spießigkeit, als Kontrast zu Zazas Extravaganz. Nein, mit Nest tritt jemand an, der Dialogtexte wirklich „spielen“ kann: unmittelbar, abgründig, aggressiv, schockierend. Da steht jemand im Zentrum dieser Gender-Gaga-Geschichte, der den Orest verkörpert hat, den Hauptmann von Köpenick, den Mauler in der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“, der Faust und vieles mehr war. Nicht zu vergessen: Filmrollen in „Kaspar Hauser“, „4 Blocks“ und „Tatort“. Das ist eine andere dramatische Größenordnung als ein Operettenbuffo alter Schule.
Mag sein, dass Nest bei seinem Debüt in „La Cage“ sich noch etwas in der Produktion und Rolle zurechtfinden musste. Aber: Was er bei seinem ersten Auftritt als Georges bereits überwältigend demonstrierte, ist sein gesangliches Gestaltungstalent. Denn wie er mit ungekünstelter Chanson-Stimme den „Song am Strand“ singt – das erste offen schwule Liebeslied in der Geschichte des Broadway-Musicals – und wie er später mit emotionaler Wucht „Sieh‘ mal dorthin“ vorträgt, das ist Weltklasse. Man merkt, dass Nest seit Jahrzehnten mit der Musicalcomedy „Abba jetzt!“ auftritt und schon am Burgtheater mit dem Programm „Tilo singt Nest“ auftrat. (Er inszenierte auch selbst das David-Bowie-Musical „Lazarus“ am Staatstheater Nürnberg). Er ist jemand, der die Höhen und Tiefen eine Rolle singend ausloten kann. Und das als Georges auch tut.
Kurz: Nest ist eine echte Bereicherung für die Komische Oper und kann sich behaupten neben Giganten wie Dagmar Manzel oder Max Hopp, die als singende Schauspieler im Bereich Operette/Musical in Berlin in den letzten zehn Jahren neue Interpretationsmaßstäbe gesetzt haben. Nest wäre auch ein spannender Kontrapunkt zu Stefan Kurt, jemand der neben und mit diesem für einen darstellerischen Höhenflug in „La Cage“ hätte sorgen können, wo es bei Kosky meist wenig um Tiefgang und mehr um Tralala geht. (Dem Kosky aber – genau wie einst Fritzi Massary – eine tiefere Bedeutung verpasst, die guttut.)
Statt Nest/Kurt als neuem Traumpaar in der Behrenstraße, gibt’s Ensemblemitglied Tom Erik Lie als Zaza. Wie mir ein Beteiligter der Produktion erklärte, meinte die neue Intendanz des Hauses, das Niveau der Komischen wahren zu müssen, indem immer ein Opernsänger im Zaza-Georges-Doppel dabei ist. Zwei Schauspieler scheinen unterm Niveau dieses Opernhauses zu sein. Was nachgerade lachhaft ist, aber auch typisch für das hiesige Musicalverständnis.
Wer Lie zuletzt als Titelheldin in Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ gesehen hat (wovon es wegen Corona nur eine Vorstellung gab), mag sich schwergetan haben, sich ihn als überzeugende Zaza vorzustellen. Denn Lies Gerolstein als Bette-Midler-Verschnitt-ohne-Bette-Midler-Ausstrahlung war vor allem eins: sterbenslangweilig. Umso größer die Überraschung, ihn jetzt in „La Cage“ zu erleben. Nicht nur wirkt der hochgewachsene Lie neben dem zwei Köpfe kleineren Nest wie ein Leuchtturm, der die Paardynamik zwischen Zaza und Georges auf interessante Weise auf den Kopf stellt. Lie verfügt mit seinem erdigen Opernbariton auch über eine Stimme, die nah am Klang der Uraufführungs-Zaza George Hearn ist. Zur Erinnerung: Hearn brillierte am Broadway auch in Sondheims „Sweeney Todd“, war Max in „Sunset Boulevard“, war im „Besuch der alten Dame“ („The Visit“) neben Chita Rivera zu erleben. Es gab jetzt Momente bei „La Cage“, wo man denken konnte, Hearn wäre in Lie wiederauferstanden, stimmlich. Der Unterschied ist, dass Hearn als Broadway-Star seine ausladenden vokalen Mittel gezielter und kalkulierter einsetzte, womit er mehr Effekt erzielt als Lie das (bislang) tut. Denn die Kunst des Musicalsingens ist, zu wissen, wann man voll aufdrehen muss und wann man sich parlandohaft zurücknimmt. Wäre nicht der wenig an Details interessierte Koen Schoots der musikalische Leiter dieser Produktion, würde ich sagen, das könnte Lie noch entsprechend proben und sich entsprechend noch enorm steigern.
Er spielt die Dialoge und damit die Figur vollkommen anders als Stefan Kurt. Er trifft Zaza (noch) nicht wirklich in allen Details, aber er trifft den Kern des Charakters. Und ist von größtmöglicher Liebeswürdigkeit in der Rolle. Als jemand, der von der Oper kommt und entsprechend äußerlich agiert, wäre Lie viel besser an der Seite von Peter Renz als wirkliches Opernduo aufgehoben. Während in der besten aller möglichen Welten Tilo Nest neben Stefan Kurt auftreten würde. Oder noch besser: alle vier immer wieder abwechselnd gemischt, um die jeweils unterschiedlichen Dynamiken, die dabei entstehen, voll auszukosten. Und es lohnend machen, wieder und wieder in die Aufführungen zu gehen.
Erwähnenswert ist, dass bei dieser dritten Vorstellung Nicky Wuchinger als Sohn von Georges und Zaza ganz anders klang als zuvor: er gestaltete seine Rolle diesmal mit rauchigen Frank-Sinatra-Tönen, die an einen verruchten Entertainer erinnerten und seinem Jean-Michel eine akustische Sexyness gaben, die unwiderstehlich ist und die Rolle enorm aufwertet. Dem Vernehmen nach war Wuchinger erkältet, aber ich habe ihn in der Vergangenheit auch im gesunden Zustand so singen gehört. Er sollte das unbedingt beibehalten für die künftigen „La Cage“-Vorstellungen. Weil dadurch auch die Texte, die er singt, mit mehr Profil und Bedeutungsschwere rüberkommen. Auch wenn man über die Qualität etlicher Neuerungen in der Übersetzung von Martin Berger streiten kann. Manchmal sehnte ich mich direkt nach der alten deutschen Fassung von Erika Gesell und Christian Severin zurück, die weniger gestelzt ist. Man kann sie auf der legendären Aufnahme von 1985 aus dem Theater des Westens hören.
Die jetzt von mir besuchte Vorstellung am Samstagabend war krachend voll mit vielen homosexuellen Besuchergruppen, die durchweg für eine spezielle Stimmung sorgten, man könnte fast sagen: Anteilnahme. Man spürte, wie wichtig es auch 2023 ist, so etwas wie LGBT-Repräsentation zu erleben auch in einem so öffentlichen und klassischen Kulturraum, was es bedeutet, selbst im totalen Klamauk dieser Inszenierung die bewegende schwule Liebesgeschichte von George und Zaza (und Sohn Jean-Michel) zu sehen, vor einem bunt zusammengewürfelten Publikum aus jung und alt, das am Ende so tobte, dass die Wände und der Fußboden wackelten (vor Getrampel).
Tom Erik Lie wurde gefeiert. Ebenso Helmut Baumann als die berühmte Zaza aus den 1980er Jahren, hier in der Nebenrolle der Restaurantbesitzerin Jacqueline dabei. Und als man denkt, mehr geht nicht, im Taumel des Applauses und der Exit-Musik aus dem Orchestergraben, zündet Kosky eine Konfettikanone und lässt Goldlametta auf den Saal niederrieseln. Als Big-Bang-Finale nach dem Finale.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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