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Donnerstag, 1. Juni 2023

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Szenenfoto, Copyright: Barbara Braun

Szenenfoto, © Barbara Braun

Rekonstruktion der Mark-Twain-Vertonung in Berlin

Kurt Weills unvollendete US-Volksoper Tom Sawyer

Im Jahr 1950 arbeitete Kurt Weill in den USA an einer amerikanischen Volksoper, basierend auf dem Roman „Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Es ist eine legendäre Geschichte, die rund um den Mississippi spielt – wie der Musicalklassiker „Show Boat“ (1927) von Jerome Kern. Zu dem Zeitpunkt hatte Weill am Broadway selbst Klassiker und Erfolge wie „Lady in the Dark“ (1941) und „One Touch of Venus“ (1943) herausgebracht und damit das geschafft, was keinem anderen Emigranten aus Nazi-Deutschland bzw. Österreich geglückt war: sich im Showgeschäft der Vereinigten Staaten zu etablieren als eigenständige und wichtige neue Stimme.

1947 hatte er mit „Street Scene“ schon eine eigene Antwort auf Gershwins „Porgy and Bess“ (1935) geschrieben und einen ersten Versuch in Richtung US-Volksoper unternommen. Da war die Twain-Adaption in Zusammenarbeit mit Maxwell Anderson und Ira Gershwin als Textautoren eigentlich ein logischer nächster Schritt. Doch Weill starb im April 1950, und das Projekt wurde nicht vollendet, nur einige Lieder wurden fertiggestellt. Keines davon mutierte zum Welt-Hit, der sich verselbstständigt hätte (wie andere mit Ira Gershwin kreierte Nummern).

Nun hat die Komische Oper Berlin eine im Auftrag von Felix Bloch Erben – und in enger Abstimmung mit der Kurt-Weill-Foundation in New York – geschaffene Rekonstruktion bzw. Neuschöpfung des Stücks von John von Düffel unter dem Titel „Tom Sawyer“ auf die Bühne gebracht. Das Originalkonzept wurde vom Ex-Chefdramaturgen der Komischen Oper, Ulrich Lenz, sowie von Regisseur Tobias Ribitzki, dem musikalischen Leiter Kai Tietje und von Düffel erarbeitet. Zusammen fassten sie den Entschluss, die Idee einer Volksoper über Bord zu werfen und aus „Tom Sawyer“ stattdessen eine „Kinderoper in zwei Akten“ zu machen. Wegen Corona kam das 2020 fertiggestellte Werk nicht während der Intendanz von Barrie Kosky heraus, sondern erst jetzt.

Um einmal mit dem Positiven zu beginnen: Obwohl wir in post-dramatischen Zeiten in der deutschen Theaterlandschaft leben, hat sich Ribitzki entschieden, die Geschichte von Tom Sawyer und seinem Freund Huckleberry Finn dramatisch stringent zu erzählen, und zwar so, dass auch jemand, der noch nie von den beiden Charakteren und ihren Abenteuern gehört hat, der Handlung mühelos folgen kann. Das könnte man fast revolutionär nennen.

Dazu kommt ein attraktives Bühnenbild von Stefan Rieckhoff (auch für die Kostüme verantwortlich), das es schafft, jede Szene atmosphärisch erfahrbar zu machen, teils mit ganz altmodischen Theatermitteln, die sich aber als unschlagbar effektiv entpuppen. Das Ganze erinnert manchmal an eine opulente Broadway-Produktion, nur dass am Broadway kein derart großer Kinderchor zur Verfügung stünde (Einstudierung: Dagmar Fiebach). Diese Bühne mit ihren genau dosierten „realistischen“ Elementen zu sehen und trotzdem niemals das Gefühl zu haben, das alles sei Opernmuseum, ist eine Glanzleistung von Ribitzki/Rieckhoff. Ein Vorhang mit einem Bild des Flusses Mississippi verdeutlicht, wo man ist, ein Rundhorizont mit abstrahierter Südstaatenlandschaft grenzt den Bühnenraum nach hinten ab. Einzelne Elemente – wie ein Zaun, Bäume, Grabsteine, ein Tisch usw. – lassen Szenen lebendig werden. Genauso wie die historischen Kostüme klar machen, wer in dieser Kleinstadtgemeinschaft wer ist – vom Lehrer, Richter, Säufer, Killer bis zu den Schülern.

Sie alle bewegen sich in genauer Personenregie auf der weitgehend leeren Bühne, sind exakt charakterisiert. Und brillant besetzt: Da ist Musicaldarsteller Michael Heller als barfüßiger Huckleberry neben Tom Schimon als Tom. Beide singen mit natürlichen Stimmen, also ohne jemals Operntöne zu produzieren. Wenn das eine Kosky-Inszenierung gewesen wäre, hätte man vielleicht mehr von der homoerotisch aufgeladenen Beziehung der beiden gesehen (wie aktuell im Kinofilm „Close“ von Regisseur Lukas Dhont). Hier wird so etwas nicht mal angedeutet – dafür sieht man Tom auf offener Bühne Kaugummi mit seiner neuen Freundin Becky (Josefine Mindus) tauschen. Das Schulkinderpublikum reagierte mit einem angeekelten Raunen. Und als Tom Becky küsst, ebenfalls auf offener Bühne, gab’s noch lautere Ekelbekundungen. Was interessant ist, weil das reguläre erwachsene Publikum sich hier entzückt zurückgelehnt hätte. Aber Kinder und Teenager ticken bei solchen Dingen nun mal anders!

Das junge Publikum folgte der Geschichte mit Konzentration, was ein Zeichen dafür ist, dass Ribitzki die Story überzeugend erzählt ohne Regietheater-Mätzchen. Und dass die verschiedenen Bühneneffekte genug Schauwert haben (nachts auf dem Friedhof, wo sich der Mord ereignet, den Tom und Huckleberry sehen, oder die Szenen in der Tropfsteinhöhle, wo sich Tom und Becky verirren und Killer Joe in die Arme laufen), um zu fesseln. Das gilt auch für das erste Finale, wo Tom, Huckleberry und Schulfreund Ben Harper (Nikita Voronchenko) in einem Holzfass den Mississippi heruntertreiben zu einer Insel, wo sie niemand finden soll, speziell nicht Killer Joe.

So weit so gut, könnte man sagen. Aber was ist mit der Musik? Sagen wir mal, dass sie bis auf Sekunden nicht nach Kurt Weill klingt, obwohl sie zu 100 Prozent von ihm stammt. Das liegt daran, dass Kai Tietje die Partitur so arrangiert hat, wie er sich scheinbar „Klassisches Musical“ vorstellt: es ist ein klanglicher Einheitsbrei, nicht schlecht oder unangenehm zu hören (ganz im Gegenteil), aber ohne einen Anflug von Weills orchestraler Genialität, die man in seinen US-Werken überall bewundern kann. Die Südstaatenelement – Banjos etc. – sind zwar vorhanden, aber Tietje der Instrumentator und Dirigent spielt nicht mit kontrastierenden Klangebenen. Und wenn mal ein „echter“ Broadway-Song kommt, wie ihn Muff Potter (Carsten Sabrowski) in seiner Gefängniszelle kurz vor der Verurteilung zum Tode singt, dann klingt das hier wie harmloses Geschunkel – nicht so, wie Kander & Ebb solche Musik in „The Scottsboro Boys“ mit Brechung verwenden, also die rhythmisch knallige Nummer mit der Todesangst der Figur als Kontrapunkt anlegen. Von solchen Effekten ist Tietjes Arrangement meilenweit entfernt.

Das ist schade. Denn es hätte auch im Rahmen einer „Kinderoper“ gepasst und das Stück musikalisch aufgewertet. Dass man als Zuschauer gewillt ist, darüber hinwegzusehen, liegt an der optischen Überzeugungskraft der Produktion und an den tollen Darstellern – und da muss unbedingt auch Ferdinand Keller als der Schüler und Schnösel Alfred Temple genannt werden, der es schafft, aus seiner Figur keine Parodie zu machen und trotzdem alle Lacher auf seiner Seite hat. Dass man ausgerechnet in Berlin und an der Komischen Oper – wo eine neue Kurt-Weill-Reihe in Arbeit ist – aus Weill etwas akustisch derart harmloses macht, ist überraschend. Vielleicht traut man Kindern nicht mehr zu?

Die Vorstellung, die ich besuchte, begann um 11 Uhr morgens und war restlos ausverkauft. Die Atmosphäre im Haus war wunderbar, weil das junge Publikum ganz anders und lautstark reagiert, so als wäre das eine TV-Show, wo die Zuschauer mit Applaus und Geschrei teilnehmen sollen. Entsprechend wurde am Schluss nach Sympathiepunkten geklatscht: Christoph Späth als Killer Joe wurde als Bösewicht ausgebuht, Tom und Huckleberry gefeiert. Die anderen – Caren van Ojen als Tante Polly, Theo Rüster als Lehrer, Kai-Uwe Fahnert als Richter – wurden kaum zur Kenntnis genommen. Sie waren da, sie waren gut, aber sie waren unwichtig.

Das Kinderopernkonzept mag dazu geführt haben, dass die internationale Musicalszene und speziell die in den USA, kaum Notiz von „Tom Sawyer“ als Kurt-Weill-Uraufführung genommen hat. Die Erwachsenen, die ich sprach und die das Stück sahen, äußerten sich alle begeistert von Besetzung und Inszenierung. Man muss also kein Schulkind sein, um Freude an dieser Produktion zu haben. Wer ans Genre Musical keine Ansprüche stellt, wird vermutlich glauben, hier auch was Besonderes zu erleben.

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich mir sehr wünschen würde, dass Ribitzki mit seinem Ansatz auch Erwachsenenopern an der Komischen Oper inszenieren würde. Es wäre eine Wohltat in Berlin und nachgerade subversiv. Und: Vielleicht lässt der Verlag Felix Bloch Erben die Partitur, so wie sie jetzt ist, noch einmal neu instrumentieren, weniger wäre hier mehr. Sicher, wenn dieser „Tom Sawyer“ ersthafte Konkurrenz zum Musical „Big River“ von Roger Miller und William Hauptman sein soll, das 1985 rauskam und am Broadway über 1.000 Vorstellungen schaffte.

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Kritik von Dr. Kevin Clarke

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