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Montag, 4. Dezember 2023

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La Traviata: Hila Baggio, Opernchor des Staatstheaters Darmstadt, Ensemble, Copyright: Nils Heck

La Traviata: Hila Baggio, Opernchor des Staatstheaters Darmstadt, Ensemble, © Nils Heck

Traviata-Premiere am Staatstheater Darmstadt

Es gibt keine Erlösung

„La Traviata“ zählt zu den Top Ten auf der Opernbühne. Ohrwurm-Arien, rauschhafte Musik, das Finale zum Sterben ergreifend schön. Bestens geeignet, um das Publikum nach der Pandemie zurückzuholen. Auch in das Staatstheater Darmstadt.

Intendant Karsten Wiegand strahlt. Die Menschen kommen in Scharen, tummeln sich am Tresen, palavern und lachen, sind nicht zu bändigen. Zur Einführung spricht er als Regisseur der Abendpremiere. Sein Vortrag über das Mikrophon erreicht die Zuhörenden aufgrund technischer Probleme nur verzerrt. Die logische Konsequenz ist nicht aufzuhalten. Der Lautstärkepegel der Operngesellschaft steigt. Drei Mal mahnt der Intendant zum Zuhören, konzentriert sich auf die Gesichter der ihm angestrengt Folgenden, erzählt von seiner Sicht auf das Werk. Schuld und Sühne, die Sünderin und der verlorene Sohn, Buße und Umkehr und die unerfüllten Sehnsüchte nach Liebe und Unsterblichkeit bestimmen seine Motive. Radikal rührt er an den Fragen nach dem Sinn und Zweck von Leben und Tod.

Mit Farben und Motiven, Spiegelungen und Licht schafft er Atmosphärisches zugunsten minimalistischer Bewegungen auf der Bühne. Die Anordnung des Chores, die Masken, das Starre und Geordnete sind der griechischen Tragödie entlehnt. Die Intensität des Augenblicks resultiert aus der Wirkung jener, die in herrlichen Arien von ihren Seelennöten erzählen. Diese Konzentration fordert ein Maximum an Identifikation mit der Partie, was in den ersten beiden Akten selten gelingt.

Zur Ouvertüre liegt Violetta im weißen Gewand langgestreckt auf der Bühne. Flora kniet neben ihr, wäscht die Kranke. Im Schlussakt wiederholt sich die Szenerie, führt zum starken Finale. Doch zunächst wandelt die blonde Violetta im engelsgleichen Partykleid verloren durch die Gesellschaft, bis sie auf Germont trifft. Er hat sie gesucht, während sie krank war. Davon singen beide, doch spürbar wird es nicht. Nur dieser Moment, da sie am Rand der Drehbühne im von Scheinwerfern erhellten Bühnendunkel ihre Liebe beteuern, begründet die Logik des weiteren Verlaufs. Violetta ist erfüllt von ihrer einzigen, wahrhaften, reinen Liebe. Der Kopulationsakt zweier Partygäste im Hintergrund schalt sie eine Närrin. So edelmütig und selbstlos sie auch handelt, bleibt sie die Kurtisane, wenn auch die edle, die in der gehobenen Gesellschaft ausschließlich für kurzweiliges Vergnügen bezahlt wird.

Dieser Prozess der Erkenntnis spielt sich vor paradiesischer Kulisse ab. Aus dem Triptychon „Garten der Lüste“, das Hieronymus Bosch zugeschrieben wird, hat Karsten Wiegand die Schau auf den Garten Eden in einem siebenteiligen Bild in der Breite angeordnet. Während Germont inmitten der Schafherde bewusst wird, dass er auf Kosten Violettas seine Liebe genießt, schwebt Violetta auf der Schaukel herab. Sie sind zwei in getrennten Idylls Gefangene. Keine Berührung, keine Nähe. Kaum ist der Geliebte fort, stellt Vater Germont die Ordnung wieder her. Violetta lenkt ein, gibt sich dem trügerischen Glauben hin, einem höheren Ziel zu dienen. Verzweiflung und Erkennen treiben sie aus dem Paradies.

Bis zu diesem Moment erscheint die dargestellte Sicht von Karsten Wiegand zwar schlüssig, aber wenig überzeugend. Hochkonzentriert singt das Solistenensemble, bedacht auf Korrektheit in der Ausgestaltung, aber ohne Bewusstsein für die Charaktere.

Dann folgte der dritte Akt, inszeniert als langer Abschied vom Leben, von der Liebe, von der Sehnsucht nach Sinn, dominiert von einer Hilflosigkeit und Verlassenheit, die keinen Raum für Hoffnung bietet.

In diesem Moment ist Hila Baggio nur noch Violetta Valèry. Kondition und Brillanz beweist sie in jedem Moment ihrer Auftritte, doch jetzt zieht sie in ihren Bann, während sie mit ungetrübter Klarheit von der Verlorenheit der Sterbenden singt. Alles, was in diesem dritten Akt passiert, verstärkt diese Wahrnehmung. Karsten Wiegand beherrscht diese Form der bereden Personenregie, die durch die Musik aus dem Orchestergraben entscheidend bestimmt ist.

Dirigent Johannes Zahn, erster Kapellmeister am Staatstheater Darmstadt und kurzfristig für den erkrankten Generalmusikdirektor Daniel Cohen eingesprungen, weiß um die Wirkung dieser Opernmusik, um die Nuancen in der Dynamik und im Tempo, und wie man Geigen zum Schluchzen bringt. So glasklar und intensiv hört man Verdis „La Traviata“ selten und so einfühlsam gegenüber den Stimmen, die weniger durch Größe als Schönheit glänzen.

Die Uraufführung von „La Traviata“ im März 1853 im Teatro La Fenice in Venedig war ein Desaster. Die Konfrontation mit dem ungeschönten Blick in die Gesellschaft schockierte das Publikum, mehr jedoch die schlecht vorbereitete Premiere. Ein Jahr danach war dies alles vergessen. Bis in die Gegenwart ist „La Traviata“ einer der Publikumsrenner. Wiegands Inszenierung hat Potential, dies auch in Darmstadt zu erzielen, sobald sich das Ensemble von Anfang an in seiner Rolle zurechtfindet.

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Kritik von Christiane Franke

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