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Freitag, 9. Juni 2023

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Szenenfoto, Copyright: Iko Freese

Szenenfoto, © Iko Freese

Dagmar Manzel und Max Hopp an der Komischen Oper Berlin

Tick, tick… boom: Bravouroperette hier und jetzt

Nach bisher 46 Vorstellungen seit der Premiere 2015 hat sich jetzt die Produktion von Oscar Straus‘ Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“ verabschiedet – zumindest für diese Spielzeit. Wir erinnern uns: nächste Spielzeit schließt die Komische Oper wegen Renovierungsarbeiten und zieht an verschiedene andere Spielstätten in der Stadt um. Ob und wie diese minimalistische und heißgeliebte Kosky-Inszenierung dann wieder aufgenommen wird, ist bislang nicht bekannt.

Dass sie heißgeliebt ist, bewies die Tatsache, dass der Zuschauerraum randvoll war bei diesem Farewell. Und dass die beiden Stars – Dagmar Manzel und Max Hopp – in anderthalb Stunden immer wieder vom Publikum gefeiert wurden wie Helden. Denn das sind sie auch: Operettenhelden, an denen sich landauf landab andere ein Vorbild nehmen sollten, wenn es um die Frage geht, was es braucht, um heutzutage erfolgreich dieses Genre auf die Bühne zu hieven.

Wer dieser Tage Operettenproduktion im Weihnachtsumfeld anschaut, wird oft mit den immer gleichen Problemen konfrontiert: Da vertrauen Regisseure und Dramaturgen der Kraft der Originalstücke nicht und schreiben sie wild um, damit sie besser zum derzeitigen Zeitgeist passen, Tenöre begehen dann am Ende Selbstmord vor Verzweiflung, es werden Lieder aus anderen Werken eingebaut, um das Originalwerk „aufzupeppen“, weil drittklassige Kapellmeister Dienste schieben müssen, obwohl sie nicht mal eine Basisahnung davon haben, wie man Operette dirigiert, es werden Opernsänger eingeplant, die schöne Stimmen haben, aber nicht schauspielern können und keine Erfahrung besitzen, wie man Pointen im Dialog rüberbringt. Oft wirkt alles peinlichst banal, wie Kindergartentheater ohne die Lebensenergie und Neugierde, die man in einem realen Kindergarten antrifft. Oft fragt man sich als Zuschauer, wieso Operette überhaupt noch relevant sein soll – im subventionierten Theaterbetrieb mit Bildungsauftrag –, wenn die Stücke so hoffnungslos flach über die Rampe kommen.

Dem steht in Berlin diese „Frau, die weiß, was sie will“ gegenüber. An der alles anders ist, als man es sonst gewohnt ist. Man hört den ganzen Abend über keinen einzigen Opernton. Stattdessen stehen da zwei Schauspieler auf der Bühne, die mit charaktervoller Chansonstimme singen, säuseln, schmachten, outrieren, erschüttern, zum Lachen animieren und dann von einer Sekunde auf die nächste ans Herz greifen. Es sind Schauspieler, bei denen Gesang und Dialog fließend ineinander übergehen, wo man nie weiß: sprechen sie, oder singen sie schon?

In dieser Produktion spielen die beiden Stars aus der Schauspielwelt gleich alle (!) Rollen, in rasend schnellen Verwandlungen, quer durch den Kostümfundus, mal sind sie Männer, mal Frauen, mal beides gleichzeitig. Für jede Figur finden sie eine andere Stimme, einen anderen Tonfall, eine neue Charakterisierung. Barrie Kosky hat unlängst im Buch „Breaking Free: Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals“ erzählt, dass einer der wichtigsten Einflüsse auf sein Verständnis von Theater die „Muppet Show“ war. Diese Inszenierung der Operette von Straus und Alfred Grünwald – 1932 für Fritzi Massary geschrieben – ist eine Hommage an die Muppets. Das koordinierte Chaos, die Überzeichnung, der Slapstick, der Spaß am Spiel: all das wird hier von Manzel und Hopp punktgenau umgesetzt als menschgewordene Versionen von Miss Piggy, Kermit und all den anderen.

Das Publikum versteht unmittelbar, wie das funktioniert und was es bedeuten soll. Es sind uralte Theaterkonventionen, vor denen sich so viele Theatermacher fürchten, weil sie angeblich „altmodisch“ sind. Man könnte besser sagen, sie seien zeitlos. Aber um sie wiederzubeleben, braucht man Darsteller, die solche Konventionen „können“.

Am Pult steht Adam Benzwi. Er hat es geschafft, zusammen mit Kosky und Dramaturg Pavel Jiracek eine Fassung zu erschaffen, bei der man das Originalwerk von Straus/Grünwald in jeder Sekunde erkennt. Es wird zelebriert, ohne ihm irgendwelche neuen „Regieideen“ aufzuzwingen. Und doch ist alles anders als 1932, weil runtergebrochen auf zwei Stars. Das ist ein genialer Trick. Und Benzwi sorgt dafür, dass die Rasanz, die man auf der Bühne sieht, auch aus dem Orchestergraben hörbar wird. Er dirigiert einen passgenauen Soundtrack, auf dem die Darsteller traumwandlerisch schreiten können. Egal welche neue Improvisation sie sich hier und da ausdenken (und sie haben sich im Vergleich zur Premiere von 2015 etliche neue Gags ausgedacht): Benzwi folgt seinen Solisten bei jeder Verzögerung, bei jedem Atemholen, bei jeder noch so unverhofften Improvisation. Und vor allem weiß Benzwi, wie man eine Operette von 1932 musikalisch gestaltet, mit ihren verschiedenen musikalischen Ebenen zwischen Schlager, Foxtrott, langsamem Walzer und Marsch. Entsprechend wird Benzwi und (!) das klein besetzte Orchester am Ende bejubelt. Sie sind Teil dieses Berliner Operettenwunders.

Es ist eines der großen Mysterien, dass die Produktion bislang nicht auf DVD verewigt oder im TV übertragen wurde, um sie für die Ewigkeit festzuhalten als Meilenstein der Operettenaufführungspraxis. Das wäre allein schon deshalb wichtig, um Menschen außerhalb Berlins eine Chance zu geben, sich das anzuschauen. Stattdessen ist von all den Kosky-Operetten aus Berlin nur Weinbergers „Frühlingsstürme“ auf DVD erschienen. Und ausgerechnet diese Inszenierung dokumentiert in den Slapstickmomenten-mit-überforderten-Opernsängern, was hier bei „Eine Frau, die weiß, was sie will“ Basis für alles ist: perfektes Timing und schauspielerische Bravour. Man braucht für diese Art von Operette Rampensäue, die das Publikum vom ersten Moment an in den Bann ziehen. Das ist hier zu erleben. Bleibt zu hoffen, dass die Produktion, die nur aus einer beigefarbenen Wand mit Tür besteht, durch die gerannt und stolziert wird, auch in den kommenden Spielzeiten an einem interessanten anderen Spielort in der Stadt zurückkehrt.

Es wäre allen Operettenschaffenden dieser Republik zu raten, reinzugehen, um zu lernen, wie Operette „tickt“. Quasi wie „Tick, tick … boom“. Mit genau bemessenen Knallmomenten. Bei Manzel, Hopp, Kosky und Benzwi kann man solch ein explosives Feuerwerk erleben. Während „Eine Frau, die weiß, was sie will“ jetzt abgespielt ist, steht im unmittelbaren Anschluss der andere Strauss-Knaller „Die Perlen der Cleopatra“ für den Rest des Monats auf dem Spielplan – wieder mit Manzel und Benzwi, aber diesmal als großes Ausstattungsereignis. Es ist wie die Kehrseite der gleichen Münze: eine weitere Massary-Operette, eine weitere Kosky-Inszenierung, ein weiterer Triumph, ein weiterer Beleg für die Operettenrevolution, die im letzten Jahrzehnt an der Komischen Oper stattgefunden hat. Eine Revolution, die mir den Glauben an dieses Genre zurückgegeben hat und in deren Windschatten sich in Berlin auch die „Operette für zwei schwule Tenöre" zum Dauerhit am BKA-Theater etablieren konnte. Auch diese preisgekrönte Neukreation von Johannes Kram und Florian Ludewig kehrt demnächst zurück, mit ebenfalls bravouröser Besetzung fernab von überholten Opernkonventionen. 

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Kritik von Dr. Kevin Clarke

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