Utopia / Teodor Currentzis / Wiener Konzerthaus, © Markus Aubrecht
Teodor Currentzis mit Utopia im Wiener Konzerthaus
Triumphaler Einstand
Über die Auftritte von Teodor Currentzis ist in den letzten Wochen und Monaten ausgiebig geschrieben worden. Darum soll es hier deshalb gar nicht gehen, jeder kann und darf dazu seine eigene Meinung haben. Nur so viel: Aus einer gesicherten, meinungsfreien Komfortzone heraus moralisierende Standpunkte einzunehmen, ist leicht – leicht hat es Currentzis, auch was die Verantwortung für sein musicAeterna- Ensemble betrifft, derzeit sicherlich nicht. Nicht etwa als Verlegenheitslösung aus den aktuellen Diskussionen heraus ist sein neues Projekt „Utopia“ entstanden, Pläne dafür gab es schon seit Jahren. 116 Musiker aus 30 Ländern, namhafte Mitglieder aus renommierten Klangkörpern wie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, der Staatskapelle Dresden oder dem Concertgebouw Amsterdam haben sich dabei zusammengefunden – eine Art „All-Star-Team“, wie man im Sport sagen würde. Wie man ebenfalls aus dem Sport weiß, sind klangvolle Namen allein noch kein garantiertes Erfolgsrezept, hier merkt man aber sehr schnell: Currentzis ist es auf Anhieb gelungen, eine musikalisch organische Einheit zu formen.
Exzessiver Klangrausch
Seit der vergangenen Woche ist die neue Formation unterwegs, über Luxemburg und Hamburg machte sie am Wochenende im Wiener Konzerthaus Station. Mit Strawinskys „Feuervogel“ (Fassung von 1945) bietet sich gleich zu Beginn die Gelegenheit, in denkbar schillernden Klangfarben zu malen, das gelingt – und wie! Die Bilder des Märchenballetts nehmen atmosphärisch und programmatisch greifbare Gestalt an, die für Currentzis so typische Unmittelbarkeit des Musizierens, die sich gleichermaßen auf Musiker wie Publikum überträgt, stellt sich augenblicklich ein. Vordergründig könnte man ein derart leises Pianissimo, in das sich die sordinierten Streicher zurückziehen, als effekthaschende Übertreibung werten, tatsächlich kreiert es aber einfach nur eine atemberaubende Spannung. Jederzeit – nicht nur im Moment von Iwan Zarewitschs Zugriff auf den Feuervogel – hat Currentzis Zugriff auf die musikalische Dramaturgie. Auch die rhythmische Aggressivität im brillant agierenden Schlagwerk wirkt nicht überzeichnet, sondern emotional elektrisierend, die Partitur bleibt auch im exzessiven Klangrausch plastisch durchhörbar.
Sinnlich aufgeladen
Auf Expressionismus folgt Impressionismus, Werke von Ravel stehen in der zweiten Hälfte auf dem Programm. In „Daphnis et Chloé“ entwickelt sich das „schönste Schäferstündchen der Musikgeschichte“ aus den anspruchsvollen, exzellent gemeisterten Flötenstimmen und steigert sich mit sinnlich aufgeladenem Schweben und Fließen bis zur finalen Ekstase, als die sie von Currentzis konsequent zelebriert wird. Das gilt auch für „La Valse“, in dem sich die massiven Klangwellen der schwungvollen Wiener Walzer-Anleihen wuchtig brechen und zum regelrechten Tsunami steigern. Die Zugabe bleibt bei Ravel, sein „Bolero“ lässt nicht mal ansatzweise repetitive Monotonie aufkommen, kaum jemand im Publikum wird sich daran erinnern können, diesen „Evergreen“ der Konzertliteratur jemals mit solcher Intensität gehört zu haben. Und kaum ein Dirigent beherrscht die Kunst der Be- und Entschleunigung derzeit so dezidiert wie Currentzis. Ganz egal, wie exaltiert er sich am Pult gebärden mag, wo man mitunter denken könnte, er wolle in seinen Bewegungen als Feuervogel im nächsten Moment selbst abheben – das ist kein affektierter Budenzauber, sondern Musizieren der Extraklasse. Die stehenden Ovationen sind „alternativlos“. Traurig ist man an diesem Abend höchstens darüber, dass man sich bis zum nächsten Utopia-Auftritt bis Juni 2023. gedulden muss: Die Vorfreude auf Mahlers Symphonie Nr. 3 ist schon jetzt riesig.
Kritik von Oliver Bernhardt
Kontakt aufnehmen mit dem Autor
Kontakt zur Redaktion
Utopia: Teodor Currentzis
Ort: Konzerthaus,
Werke von: Igor Strawinsky, Maurice Ravel
Mitwirkende: Teodor Currentzis (Dirigent)
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel.
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Portrait

"Auf der Klarinette den Sänger spielen, das ist einfach cool!"
Der Klarinettist Nicolai Pfeffer im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich