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Thomas Lehman, Flrina Stucki, AJ Glueckert, © Thomas Aurin
Ersan Mondtag inszeniert Antikrist in Berlin
Apokalyptische Sternstunde
Die meisten Menschen werden bei der Kombination der Begriffe Antichrist und Dänemark vermutlich zuerst an Lars vom Triers Horrorfilm aus dem Jahr 2009 denken, mit Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg. Ein Schocker aus der „Depressions-Trilogie“, den man so schnell nicht vergisst (die anderen beiden Trilogie-Teile sind „Melancholia“ mit dem ergreifenden Wagner-Finale und „Nymphomaniac“.)
Weit weniger bekannt ist die Oper „Antikrist“ des dänischen Komponisten Rued Langgaard (1893-1952). Sie entstand in den 1920er-Jahren als geradezu halluzinatorisches Oratorium, in dem Gott und Luzifer über die Menschheit-am-Abgrund nachdenken – mit Charakteren, die Namen haben wie „Der Mund, der große Worte spricht“ oder „Die Lüge“ und „Der Hass“. Es ist ein Mysterienspiel zu spätspätromantischen Klängen, irgendwo zwischen Wagner, Strauss, Schreker und Mahler. Mit anderen Worten: Es ist extrem opulent. Aber auch sperrig, weil die Geschichte des „Antikrist“ – auf ein von Komponisten selbst verfasstes Libretto – kaum Sinn ergibt als Handlung. Weswegen es zu Langgaards Lebenzeiten auch keine Aufführungen gab.
Erst viel später entdeckten dänische Fans des Künstlers das Werk neu, brachten es konzertant zur Aufführung, sorgten für eine CD-Einspielung. Und brachten den Titel dadurch in Umlauf. 1999 wagte sich dann das Tiroler Landestheater in Innsbruck an eine szenische Uraufführung.
20 Jahre später folgt nun an der Deutschen Oper Berlin die szenische Hauptstadtpremiere, mit der Ersan Mondtag als junger queerer Fantast der Theaterszene sein Hausdebüt gibt. Mondtag ist, als sein eigener Bühnenbildner, bekannt für surreale Theaterwelten, die oft lange nachhallen (etwa sein „Silbersee“ an der Oper in Antwerpen), auch wenn sie verstören und kaum Sinn ergeben. Damit ist Mondtag sicher der perfekte Mann für ein Werk wie „Antikrist“, für das ihm die DOB mit Stephan Zilias einen Dirigenten zur Seite stellt, der die Mammutpartitur wirklich differenziert zum Klingen bringt und teils spektakulärste Klangwirkungen heraufbeschwört, die überwältigen können (mit Blechbläsern auf der Seitenbühne, um die Fanfaren des Jüngsten Gerichts möglichst plastisch erfahrbar zu machen).
Zudem hat der Besetzungschef der DOB eine wirkliche Armada von jungen üppigen Prachtstimmen aufgeboten, die in aufeinanderfolgenden Szenen – wie in einer gespenstischen Revue – für vokalen Glanz der Extraklasse sorgen. Neben vielen Namen muss speziell Flurina Stucki als „Die große Hure“ genannt werden, die ihren Part mit einer Isolden-Stimme von größtmöglicher Schlankheit, Fokussierung und Schönheit singt.
Stucki ist genau wie alle anderen in ein groteskes Kostüm und einen Bodysuit gesteckt. In diesem sieht man sie als übergewichtige Nackte, mit vollen Brüsten und einem Penis, Bauchringen und cartoonhaft bemalt. Das ist effektvoll und macht aus ihr wie allen anderen auch abstrahierte Chiffren, keine Menschen (die sie sowieso nicht sein sollen). Alle bewegen sich in einem gleichfalls comichaften Bühnenbild, das eine Straße zeigt mit Hotel und Bar. Am Horizont erahnt man den Abgrund, auf den alles zusteuert. Vom Himmel stürzen gelbe NYC-Taxis, in einer Andeutung der Apokalypse. Oder eine nicht-binäre ganzkörperrasierte Christusfigur mit Vollbart und Vagina schwebt überlebensgroß von oben herab. Es ist ein Mix von Otto Dix, Hieronymus Bosch, Marvel und Pornhub. Und sehr bunt, was die Wirkung des Ganzen stark steigert.
Zwischen den Solisten-in-Revuereihenfolge tanzt eine Tanzgruppe permanent umher, scheinbar unabhängig vom Rest des Geschehens. Auch sie sind in Bodysuits gepackt und wirken wie Cartoons. Daraus ergibt sich ein zirka 90-minütiges Spektakel, das für mich zu den interessantesten Erlebnissen der bisherigen Spielzeit zählt. Weil es Bewegung und Farbe bietet, zur Entdeckung einlädt und weil es Klangrausch bietet, vergleichbar mit dem, was das Haus vor einigen Jahren mit dem „Wunder der Heliane“ offerierte oder mit den „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels, in einer Inszenierung von Schlingensief, die in ihrer träumerischen Verrücktheit mit Mondtag vergleichbar ist.
Das Publikum in der rappelvollen DOB lauschte gebannt und feierte am Ende das Regieteam (zu dem auch Annika Lu Hermann als Mitarbeiterin an den Kostümen zählt sowie Rainer Casper, der fürs Licht verantwortlich ist, und Rob Fordeyn als Choreograph). Die Solisten wurden ihrerseits mit Applaus überschüttet und sollten einzeln genannt werden: Thomas Lehman mit fulminanter Wotan-Röhre als Luzifer neben dem nackten Jonas Grundner-Culemann als Gottes (Sprech-)Stimme. Valeriia Savinskaia sang das „Echo der Rätselstimmung“, Irene Roberts die „Rätselstimmung“ selbst. Clemens Bieber fiel Corona-bedingt aus und wurde von Thomas Blondelle ersetzt, der als einziger etwas zu stark auf die Tenortröte drückte und dadurch ein unschönes (und unnötiges) Vibrato erzeugte als „Mund, der große Worte spricht“. Gina Perregrino war der „Missmut“ und AJ Glueckert „Das Tier in Scharlach“. Andrew Dickinson glänzte als „Die Lüge“ neben Jordan Shanahan als „Hass“. Nicht zu vergessen der Chor unter Leitung von Jeremy Bines.
Das Orchester der DOB habe ich lange nicht so differenziert und intensiv gehört, auch im Vergleich zu den anderen beiden Opernorchestern der Hauptstadt haben die Musiker hier einen Höhepunkt der aktuellen Spielzeit abgeliefert. Warum auf Deutsch gesungen wurde – kaum verständlich – ist mir unklar. Besonders bei diesem wirren Text, den man mit englischen und deutschen Übertiteln auch im Original hätte präsentieren können. (Interessanterweise widersprachen sich die englischen und deutschen Übertitel teils, was vermutlich auf die Uneindeutigkeit der Vorlage zurückzuführen ist.)
Mein einziger kleiner Wermutstropfen ist, dass bei aller Buntheit der Inszenierung in den einzelnen Revueszenen nicht viel Neues passierte. Und als die „Hure“ auf dem Höhepunkt des Abends in ekstatischen Höhen davon sinkt, dass die Sterne in Flammen aufgehen – dann passiert nichts! Sie selbst geht einfach seitlich in die Bühnengasse ab. Das hätte gerade bei einem Regisseur wie Mondtag und gerade bei solch einem Stück ein optischer Höhepunkt zum musikalischen Klimax sein müssen.
Wieso es von diesem aufwändigen Werk jetzt – nach zwei Jahren Corona-Wartezeit und ewigen Verschiebungen der Premiere – nur vier Vorstellungen bis Mitte Februar gibt, bleibt auch ein Geheimnis des Hauses. Traut man Mondtag/Langgaard nicht zu, Publikum anzuziehen? Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass das Stück nächste Spielzeit zurückkehrt und vielleicht auch auf DVD veröffentlicht wird. Es lohnt das Kennenlernen. Definitiv.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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