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Samstag, 2. Dezember 2023

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Felix Martin, Copyright: Brigitte Dummer

Felix Martin, © Brigitte Dummer

Das Great Christmas Songbook aus Musicalperspektive

Schöne Bescherung

Beurteilt nach dem Wohlfühlfaktor, ist der Wintergarten sicher eine der schönsten Konzertlokalitäten in Berlin, wo die Zuschauer an Tischen bei gedimmtem Licht sitzen, essen und trinken, und gleichzeitig Musik hören können. Da kommt ansonsten nur die Bar jeder Vernunft und das Tipi am Kanzleramt 'ran. Während in letzterem Katharine Mehrling kürzlich das Great American Songbook präsentierte, bot Felix Martin im Wintergarten nun das Great Christmas Songbook mit Special Guests aus der Musical-Branche.

Weihnachtsprogramme von und mit Musicaldarstellern stehen ja gerade hoch im Kurs: Kristen Chenoweth („Wicked“) veröffentlichte soeben das Album „Happiness is… Christmas“, der „Glee“-Star Darren Criss hat „A Very Darren Crissmas” vorgelegt und der Politiksatiriker Randy Rainboy (berühmt für seine Musikvideos, die Donald Trump parodierten) zeigt mit seinem „Hey Gurls, It’s Christmas!“, wie man Musical und Weihnachten genial und sehr queer verbinden kann.

Felix Martin tritt momentan in Wien in „Cats“ auf, außerdem ist er aus vielen deutschsprachigen Musicalproduktionen bekannt. Ein Weihnachtskonzert im Wintergarten hat bei ihm Tradition und bietet Gelegenheit, zwischen den acht wöchentlichen Vorstellungen in der immer gleichen Rolle mal etwas anderes zu singen. Und es bietet Musicalfans in Berlin Gelegenheit, Martin und Freunde mit einer Spannbreite an Repertoire zu hören, die es sonst in der Hauptstadt nicht gibt, wo bekanntlich wenige Musicals auf den Bühnen zu finden sind (Ausnahme ist neuerdings am Gorki Theater „Slippery Slope" von Yael Ronen).

Weihnachtslieder waren bei Felix Martins „Schöne Bescherung“-Liederabend vielleicht der thematische Ausgangspunkt und die Inspiration für eine over-the-top kitschige Blingbling-Dekoration (zu der auch ein Schneemann namens „Tootsie“ gehörte). Aber zwischen den diversen Weihnachtsklassikern, die gemeinsam mit dem Publikum gesummt wurden (wegen Corona war lautes Mitsingen nicht gestattet), gab es viel Musicalrepertoire.

Gleich zu Beginn Andrew Lloyd Webbers Hit „Love Changes Everything“ aus „Aspects of Love“, damit war 1989 Michael Ball mit strahlendem Tenor in die Hitparaden gestürmt. Das Lied nun als „Wer versteht, was Liebe ist?“ wiederzuhören, in einer sehr zurückgenommenen Interpretation, war für mich gewöhnungsbedürftig. Und auch die weiteren deutschen Liedtexte von bekannten englischsprachigen Liedern empfand ich als … sagen wir einmal: ungewöhnlich. („Wünsche mit zu Weihnachten nur dich“, statt Mariah Careys Originaltext „All I Want for Christmas Is You“.)

Das überwiegend ältere Publikum im ausverkauften Wintergarten schien das allerdings zu schätzen, ebenso die auffallend private Weise, wie sich Felix Martin auf der Bühne präsentierte mit Moderationen, die durchweg auf Schmusekurs waren. Scheinbar will ein bestimmtes Musicalpublikumssegment genau solche Simplizität, um dabei zu entspannen. Mir steht nicht zu, das zu kritisieren. Schließlich hat jeder seine eigenen Entspannungsrituale.

Stilistisch ist es schwer, Felix Martin dingfest zu machen, weil er extrem wandlungsfähig ist und auf mich am überzeugendsten wirkte, wenn er in unterschiedliche „Rollen“ schlüpfte, mit Swing, Rock’n’Roll, Heurigenseligkeit usw.: mit einer Parodie des Wienertums in „Wien, Wien, nur du allein“ oder eine Frank-Sinatra-Hommage mit „New York, New York“, eine Veralberung italienischer Tenöre mit „O sole mio“ usw. usf. Aber was der „eigentliche“ Martin wäre, könnte ich nach diesem Konzert nicht sagen; und das, obwohl er so „privat“ auftrat.

Martin und seine beiden Gäste Lina Gerlitz und David Jakobs (sowie Holger Off mit einem neu komponierten Weihnachtslied) gemahnen, dass es neben den Musicals, die man derzeit bei Netflix, Amazon Prime oder Disney+ bewundern kann – „Tick, Tick… Boom“ mit Andrew Garfield oder „Dear Evan Hansen“ mit Ben Platt, „Hamilton“ mit Lin-Manuel Miranda – auch eine sehr andere Musicalwelt gibt, der in Deutschland und Österreich viele Menschen verfallen sind.

In einem großen De-Profundis-Artikel fragte der Kritiker Manuel Brug in der letzten „Welt am Sonntag“: „Woher kommt die neue Faszination für Musicals? Gerade in der Theaternation Deutschland wird diese Kunstform von Intellektuellen gern belächelt – und von der Masse geliebt. Die neuen Musicals sind so vielgestaltig und offensiv wie selten – und indem sie auch auf die Leinwände und Streaming-Plattformen drängen, erreichen sie mit zum Teil ernsten Themen eine ungekannte Heerschar an Fans.“

Damit meinte Brug offensichtlich nicht die Form von Musicals, die es hier zu bestaunen gab. Denn obwohl das gebotene Repertoire vielfältig war, war es sicher nicht offensiv und gänzlich ohne „ernste Themen“. Und die „Queerness“, von der Brug spricht, wurde zwar von Martin & Co. gelebt auf der Bühne, aber nicht in Liedern ausmusiziert.

Während derzeit im Kino und bei Streamingdiensten so viele Musicals zu sehen sind, wie seit Jahrzehnten nicht („West Side Story“, „Annette“ usw.) und dadurch eine unendliche musikalisch-thematische Spannbereite zu bestaunen ist, präsentieren Martin, Gerlitz und Jakobs einen Alternativentwurf. Ihr Publikum jubelte und freute sich darüber im Wintergarten, wie in einer Art Enklave abgeschirmt vor der Außenwelt und der Musicalkonkurrenz der globalen Massenplattformen.

Zu unserer postmodernen Zeit gehört es, anzuerkennen, dass es alternative Sichtweisen gibt, auch aufs Musical. Und auch auf Weihnachten. Daran hat Felix Martin mit seiner „Schönen Bescherung“ erinnert. Nikolai Orloff begleitete die Solisten kongenial am Bechstein-Flügel und erzählte von seinen eigenen Weihnachtserfahrungen in Minsk, die vollkommen anders waren als das, was wir in Deutschland kennen. Er erklärte auch, dass er heute eine Kombination all dieser Welten lebe. In Sachen Musical ist das genauso möglich. „Hinterm Horizont“ und „Mozart“ (woraus es Lieder und Duette zu hören gab) gehören ebenso zum Genre wie „Everybody’s Talking About Jamie“ oder die entsprechenden Szenen aus „High School Musical: The Musical: The Series“ oder „Glee“. Oder „The Music Man“ (demnächst am Broadway) bzw. „Oklahoma“ (demnächst im West End).

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Kritik von Dr. Kevin Clarke

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