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London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, © Tibor Pluto
Sternstunden der Bruckner-Rezeption
'Voll von ehrlicher Musik'
Alle Zuschauer, Zuhörer spürten sie: die freudvolle funkensprühende Leidenschaft mit welcher Sir Simon Rattle das Konzert in der ‚Alten Oper‘ ankündigt. Das ist ungewöhnlich, ja außergewöhnlich: eine Ankündigung vor einem Konzert vom Dirigenten desselben. Rattle ist überwältigt von der Fülle der Ideen, die Bruckner anbietet. Dies und noch viel mehr war spürbar beim Erleben des Brucknerabends der Vierten in Frankfurt. Anton Bruckners Vierte, seine "Romantische" erlebte unter Rattles Dirigat Sternstunden der Bruckner-Rezeption. Denn Rattle stachelte das Publikum und sein Orchester gleichermaßen dazu an, der musikalischen Entdeckerlust freien Lauf zu lassen.
Im ersten, nur vierzig minütigen Teil des Konzertes dirigierte Rattle einfühlsam und musikalisch elektrisiert mit wenigen Gesten das London Symphony Orchestra durch die von Anton Bruckner verworfenen Sätze aus früheren Fassungen seiner "Romantischen". Zu hören waren ein Scherzo, das der Komponist später verwarf zugunsten der bekannteren "Jagd"-Version und ein Finale, das der emsige, grüblerische Tüftler Bruckner jahrelang akribisch be- und umarbeitete. Hornrufe sind in allen Fassungen vorherrschend, aber das Scherzo von 1874 weist endlose Wiederholungen eines solchen Rufs auf. Nach der Pause präsentierte Rattle dann die Uraufführung einer neuen Bearbeitung der Endfassung der Vierten Sinfonie durch Benjamin-Gunnar Cohrs. Diese wurde in diesem Jahr in der Wiener Bruckner-Gesamtausgabe veröffentlicht. Simon Rattle bemerkte in seinem kurzen Statement zu diesem Programm, dass es etwa acht mögliche Fassungen der Vierten in Es-Dur gibt. Der Versuch genau zu beschreiben, was wir hören werden, würde uns ratlos zurücklassen.
Die Frankfurter Piano-Koryphäe Clara Schumann, sie war Lehrerin am Dr. Hochs Konservatorium und berühmt berüchtigt für ihre Scharfzüngigkeit, sagte über eine Sinfonie Bruckners: ‚Das ist ja ein greuliches Stück, nichts wie Fetzen aneinander gereiht und viel Bombast; dazu noch von unverschämter Länge.‘ Gut ist, dass diese persönlich geprägten Ressentiments heute keinerlei Bedeutung besitzen, die nur Wegmarken zum Unverständnis der grossen Kunst Bruckners im ausgehenden 19. Jahrhunderts markieren.
Sir Simon Rattle wanderte am Schluss dieses äußerst innig huldvollen und zugleich aufwühlenden Brucknererlebnisses menschlich und uneitel durch sein Orchester um explizit die prachtvoll sinnlichen Hörner, die stringent klar spielenden Holzbläser und saftig flirrenden Streichergruppen zu feiern. Rattle kündigte vor dem Konzert an, dass Bruckners Vierte "voll von ehrlicher Musik" sei. Als weiser, klar denkender Klangverwalter löste er dieses Versprechen an diesem wundersam beseelten Abend gemeinsam mit seinem LSO ein.
Kritik von Barbara Röder
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London Symphony Orchestra: Simon Rattle
Ort: Alte Oper,
Werke von: Anton Bruckner
Mitwirkende: Sir Simon Rattle (Dirigent), London Symphony Orchestra (Orchester)
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