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Baltic Sea Philharmonic in Peenemünde, © Geert Maciejewski
Kristjan Järvi und das Baltic Sea Philharmonic Orchestra
Auftakt zum Usedomer Musikfestival
Inmitten der allgemeinen Corona-Lähmung kommen aus Usedom positive Signale: Das Usedomer Musikfestival findet statt! Das Festival hatte im Vorfeld in engem Kontakt mit den Behörden Sicherheits- und Hygienekonzepte entwickelt, um den Gästen musikalischen Hochgenuss bieten zu können. Finanziell ist das Festival, wie Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in ihrer Begrüßungsansprache mitteilte, durch das Land Mecklenburg-Vorpommern abgesichert. Auch im Jahr 2020 bietet das Usedomer Musikfestival der Musik des Ostseeraums mit ihrer enormen Bandbreite ein Podium. Das Konzept einer positiven Spannung zwischen Tradition, Volksmusik, Jazz und Avantgarde erfüllt sich in der Vielfalt des Festival-Programms wie auch in der Gegensätzlichkeit der teilweise ungewöhnlichen Veranstaltungsorte. Intendant Thomas Hummel, der das Usedomer Musikfestival vor 27 Jahren gründete, stellte schon 2018 zu Recht fest: "Der Ostseeregion ist das Usedomer Musikfestival verpflichtet, seine Mission ist einfach: Verständigung über Ländergrenzen hinweg."
Und das ist 2020 wichtiger denn je. Wie jedes Jahr gibt es mit wechselnden Gastländern spezielle Schwerpunkte. Beim 27. Usedomer Musikfestival liegt der Fokus auf „Norwegen". Vom 19. September bis zum 10. Oktober sind herausragende Solisten und Ensembles zu erleben. Das Nordic String Quartet, das Phaeton Piano Trio oder das Norwegische Kammerorchester 1B1 unter der Leitung des Baltic Sea Philharmonic-Coaches Jan Bjøranger sind neben anderen dabei. Aufgrund verschärfter Coronaregelungen in Norwegen spielt das Baltic Sea Philharmonic in kleinerer Besetzung unter der Leitung von Kristjan Järvi mit „The Baltic Sea Philharmonic take on Jazz“ die Eröffnung. Eigens für dieses Konzert hat der Hollywoodarrangeur Gene Pritsker über Nacht das Werk „Brother Wind March“ von Jan Garbarek für das junge Ensemble neu arrangiert. Das Ensemble springt für den 73-jährigen Jazzsaxophonisten Jan Garbarek und seine Garbarek Group ein, die wegen der verschärften Quarantänebedingungen absagen mussten. Das Programm mit norwegischen Volksliedern, Folklore und Spielmannsmusik der Hardangergeigerin Benedicte Maurseth übernimmt der norwegische Violinvirtuose und Baltic Sea Philharmonic-Coach Jan Bjøranger. Den norwegischen Pianisten Håvard Gimse ersetzt die schwedische Pianistin Maria Lettberg mit Werken von Schumann, Brahms und Grieg. Weitere Musiker des Usedomer Musikfestivals, wie der norwegische Pianist Christian Ihle Hadland, der Bajanvirtuose Geir Draugsvoll, der Violinist Jan Bjøranger sowie sein Ensemble 1B1 haben trotz der verschärften Quarantänebedingungen zugesagt, auf Usedom aufzutreten. Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert mit dem Cellisten Sheku Kanneh-Mason serviert zum Abschluss des Musikfestivals am 10. Oktober mit Werken von Schumann, Saint-Saens und dem bei uns fast völlig unbekannten norwegischen Komponisten Harald Sigurd Johan Sæverud ein spannendes Konzert. Es formuliert einen "kategorischen Imperativ", sich mehr mit den zahlreichen Komponisten der Ostseeregion zu beschäftigen.
Höhepunkte des Festivals sind wie immer die Peenemünder Konzerte im Kraftwerk der ehemaligen Heeresversuchsanstalt. Das Konzert am 12. September bot anlässlich von 30 Jahren deutscher Einheit eine Hommage an die gesamte Ostseeregion. Dabei erklangen im Beisein von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder Werke von Komponisten aus Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Russland, dem Baltikum, Polen und Deutschland. Statt der sonst 1.200 Zuhörer gab es zwei Aufführungen vor jeweils 400 Gästen, die Einhaltung eines Mindestabstandes war damit kein Problem.
Kristjan Järvi bot mit seinem Baltic Sea Philharmonic mit dem Programm „Nordic Pulse“ eine innovative Kombination von bekannten Werken des klassischen Repertoires, kompiliert mit Clubmusik (vom Computer eingespielt) und Minimal Music, dazu Videoprojektion. Geboten wurde ein Kaleidoskop von Werken junger Komponisten wie Gediminas Gelgotas, Sven Helbig, Robot Koch, Kristjan Järvi u.a., die ihren Platz fanden neben alten Meistern wie Beethoven, Grieg und Tschaikowsky - sozusagen ein Remix von Tradition und Innovation. Diese rund 70-minütige Aufführung hätte man sich auch im legendären Club Berghain in Berlin vorstellen können. Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen. Kristjan Järvi ist ja nicht nur ein exzellenter Dirigent, sondern ein ebenso intelligenter Komponist. Er bot nicht nur einen spannenden Remix aus bekannten Werken, sondern nahm Beethovens 5. Sinfonie gewissermaßen als „Hüllkurve“ für den gesamten Verlauf. Der erste Satz wurde zu Beginn auf den Dur-Moll-Wechsel des 1. Themas reduziert, mehr nicht, dann wurden Ausschnitte anderer Werke integriert und so diesem Klassiker das Bombastische genommen. Die Sätze wurden in einen neuen Zusammenhang gestellt, so gelingt es neue Facetten dieser Sinfonie zu entdecken. Kristjan Järvi spielt permanent mit Hörerwartungen. Bestes Beispiel: Am Ende des Scherzos aus der 5. Sinfonie erwartet der Hörer das triumphale Finale, was bietet Järvi – eine grandiose Neuinstrumentierung von Edward Griegs „Morgenstimmung“. Das Finale der 5. Sinfonie wird dann, wenn man es nicht mehr erwartet, gewissermaßen „nachgeliefert“. Das Konzert bot so in der Tat anhaltenden Spannungsbogen. Der Ansatz ist letztendlich auch ein aleatorischer, da die Reihenfolge der Werke sich von Konzert zu Konzert ändern kann.
Die Musiker der Baltic Sea Philharmonic, die stehend auswendig grandios musizierten, formten sich ständig zu neuen Klangformationen und boten so zusätzlich neue Hörerlebnisse. Musik und Expressivität sind die beiden Grundpfeiler in Kristjan Järvis Musikdenken, das keine Schubladen kennt. Das Ganze wird zwar von einer akademischen Technik unterfüttert, aber Virtuosität interessierte ihn dabei weniger. Was er an sozialen Kompetenzen des Zusammenspielens an sein Orchester vermittelt, ist wohl der Grund dafür, dass sich seine Interpretationen grundlegend von denen anderer Dirigenten unterscheiden.
Heraus kam bei diesem Abend im „vollbesetzten“ Kraftwerk eine Demonstration von Kristjan Järvis virtuoser Kunst als Komponist, Orchestererzieher und Dirigent und ein wenig auch als Selbstdarsteller. Mit Sicherheit ist Järvis Herangehensweise auch ein schlauer Weg, neue, junge Publikumsschichten zu erschließen und Konzertsäle vom Image des „Silbersees“ zu befreien. Aber seine Herangehensweise ist auch ein wertvoller Beitrag dafür, wie man den Gedanken der europäischen Verständigung geschickt aufgreift. Es wird eben nicht nur irgendein Orchester aus dem Ostseeraum eingeladen, sondern das Orchester selbst ist schon ein Beleg für Völkerverständigung. Ein Gedanke, wie ihn auch Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra verfolgt. Es ist ja noch immer so, und das sollte man auch bedenken, dass das Bewusstsein für die großartige kulturelle Vielfalt der Ostseeregion sehr unterentwickelt ist. Einen Tag vor dem Konzert gab es eine fabelhafte Lesung der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die zum Auftakt der Usedomer Literaturtage nach Heringsdorf gekommen war. Ihr Roman „Die Jakobsbücher“ ist letztendlich Plädoyer für eine Änderung einer Geisteshaltung, einer zweiten Aufklärung, die eine Rücknahme der exaltierten Emanzipation des Ichs zugunsten einer ausgewogenen Balance zwischen Individuen und Gesellschaft fordert. Dieser Gedanken hat eine erstaunliche Affinität zu Kristjan Järvis Interpretationshaltung, indem er Beethoven den „bombastischen“ Stachel zieht, erlaubt er neue Hörererlebnisse: „Happy new ears!“ (John Cage)
Kritik von Michael Pitz-Grewenig
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Festliches Sonderkonzert: 30 Jahre Wiedervereinigung
Ort: Kraftwerk,
Werke von: Ludwig van Beethoven, Edvard Grieg, Peter Tschaikowsky
Mitwirkende: Kristjan Järvi (Dirigent)
Detailinformationen zum Veranstalter Usedomer MusikfestivalDieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
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