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Konzerthaus Berlin, © Ansgar Koreng
Raritäten üben mit ,La mer' Naturbeschwörung
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft
Was ist Kunst? Eine von vielen möglichen Antworten könnte sein: Kunst, das ist nicht Natur. Natur in ihrer zweckgebundenen Ästhetik, in der ein männlicher Pfau schön, nicht um seiner selbst willen, sondern zum Schutz des Weibchens ist, bedeutet vielleicht eine Antikunst. Dennoch gilt gerade Musikern die Natur häufig als die größte Künstlerin überhaupt. Der Klang von windbewegten Wäldern, zwitschernden Vögeln, knisterndem Feuer oder dem Rauschen des Meeres hat alle Komponisten verzaubert und sie inspiriert, die Natur in die Künstlichkeit eines Musikstückes zu übersetzen. Das Konzert des Berliner Sinfonie-Orchesters unter Marcello Viotti konfrontierte den Hörer mit vier Werken dieser komponierten ,Antikunst‘. In einer geschickten Programmfolge beschwor es Erde, Wasser, Luft und Feuer. So wurde das viel gehörte ,La mer‘ von Debussy mit Raritäten von Frank Martin, Vincent D’Indy und Camille Saint-Saëns in einen Bedeutungszusammenhang gebracht.
Frank Martins Komposition ,Les quatre éléments‘ von 1964 ist ein verstörender Anachronismus. Zwar ist Martins Musiksprache, seine spröd-archaische Harmonik und die intensive Rhythmik unverkennbar, doch huldigt das Werk in seiner Konzeption dem Impressionismus Debussys. Während sich Martins Zeitgenossen vor ästhetischen Rückbesinnungen fürchteten und lieber in die Enge der Studios flüchteten, wagt Martin gleichsam mit der Staffelei unter dem Arm den Schritt ins Freie. Der Vorwurf der Plakativität ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Martin beschwört die Elemente klanglich als impressionistische Naturereignisse. Das Berliner Sinfonie-Orchester bot ,Les quatre éléments‘ aber ohne übermäßige Delikatesse dar. Gerade im Element ,Luft‘ hätte sich eine leichtfüßig verspieltere Wiedergabe eines ,Windspiels‘ angeboten. Viotti versagte sich klangliche Schwelgerei, akzentuierte dafür Struktur und die Charakteristik einzelner Klanggruppen und stellte Martins unbekümmerten Spätimpressionismus damit sinnvoll in Frage.
Einen vergleichbaren Weg schlug Viotti auch im 1. Satz von Debussys ,La mer‘ ein, jedoch mit gegenteiligem Erfolg. Mit schnellen Tempi ließ er die Sonne über den grob und schlampig einsetzenden Holzbläsern aufgehen. Der Satz fand zu keiner rechten Einheit, geschweige denn klanglicher Magie. War aber der 1. Satz misslungen, so durfte man in den beiden weiteren kaum mehr für möglich gehaltene Interpretationshöhepunkte erleben. Ungemein farbig, mit einem bestechenden Sinn für ausgefallene Tempomodifikationen im 2. Satz und klanglich äußerst exquisit war ,La mer‘ hier nicht mehr das abgenudelte Pflichtstück, sondern durch einen zwingenden Interpretationswillen zum Glanzpunkt des Abend geworden.
Zwischen diesen elementaren Naturerlebnissen platzierte Viotti zwei Werke, in denen der Mensch die Natur als Bühne betritt. Vincent d’Indy begleitet in seiner ,Symphonie sur un chant montagnard français‘ einen Wanderer durch die Berge der Cevennen. Er legt ihm eine hinreißend schöne Volksweise in den Mund und durchwirkt damit die ganze Wanderung, sprich die ganze Symphonie, die durch den Einsatz des Klaviers an Farbenreichtum gewinnt. Dieser Part hat selten ein eigenständiges Profil, ist lediglich klangliche Bereicherung. François-Joël Thiollier leistete seinen Beitrag entsprechend ungekünstelt und ohne die große pianistische Geste. Bisweilen verschluckten ihn die forsch agierenden Orchestermassen. Auch hier vermied Viotti die verklärte Naturschilderung, schon das Liedthema des Englischhorns konnte man sich tiefer empfunden ausmalen.
Gänzlich erdverbunden stellte der Dirigent schließlich ,Africa‘ von Camille Saint-Saëns dar, ein Stück voll exotischer Ingredienzien und arabischem Kolorit, dessen solistischer Klavierpart die virtuose Pranke fordert. Er ist gespickt mit vollgriffigen Laufgewittern, die Thiollier die Möglichkeit gaben, seine technische Meisterschaft zur Geltung bringen. Auch wenn ihm die Schwierigkeiten der Partitur anzumerken waren, wagte er mit kantigem, etwas scharfem Anschlag eine gewitzte, lebendige Darstellung, deren fast jazzige Rhythmen einen erfreulichen Groove produzierten. Wer den Pianisten Thiollier besser kennt, der mochte aber erst in der romantisch verträumten Zugabe für die linke Hand seine wirklichen im poetischen Tonfall liegenden Stärken finden.
Viel Beifall für einen reizvoll abwechslungsreichen Abend zu Lande, zu Wasser und in der Luft.
Kritik von Dr. Thomas Vitzthum
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Berliner Sinfonie-Orchester unter Marcello Viotti: Klavier: François-Joël Thiollier
Ort: Konzerthaus,
Werke von: Claude Debussy, Frank Martin, Camille Saint-Saens, Vincent d'Indy
Mitwirkende: Marcello Viotti (Dirigent), Berliner Sinfonie-Orchester (Orchester), Francois-Joel Thiollier (Solist Instr.)
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Der Pianist Herbert Schuch im Gespräch mit klassik.com.
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