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Birger Radde, Christoph Heinrich (v.l.), © Jörg Landsberg
'Don Giovanni' am Theater Bremen
'Viva la libertà!'
Erotische Lustspiele auf einem Kohlfeld in mondbeschienener Nacht. Alle Beteiligten – Don Giovanni in Glitzerjackett und pinkfarbener Strumpfhose, Leporello und Donna Anna – scheinen die Situation zu genießen. Wirklich? Denn als Donna Annas Vater, der Komtur, das Liebespaar entdeckt, steht sie auf und schreit, klagt an, ist sie die Vergewaltigte und ruft um Hilfe. In Lorenzo Da Pontes Libretto fordert der Komtur den vermeintlichen Übeltäter und Ehrenmann Don Giovanni heraus. Letzterer zieht seinen Degen und kämpft. Der Komtur kommt zu Tode. Nicht so in der vor kurzem Premiere feiernden Interpretation von Tatjana Gürbaca und ihrem Regieteam im Theater Bremen. Hier ringen beide zunächst ohne Waffen. Zwar ist es Don Giovanni, der den Todesstoß ausführt, allerdings nachdem ihm das Messer von Donna Anna zugesteckt wurde und er – wie im Affekt – zusticht. Eine mutige Deutung in den Zeiten von MeToo! Eine provozierend wirkende, denkbare Interpretation, wenn man sich die Entstehungszeit der Oper und die mitunter widersprüchliche Personendramaturgie in Libretto und Musik bei Mozart und Da Ponte vor Augen führt.
'Don Giovanni' wurde zwei Jahre vor der französischen Revolution in Prag uraufgeführt und ist die zweite der sogenannten Da-Ponte-Opern. Das tragikomische Werk trägt die Gattungsbezeichnung ‚Dramma giocoso‘ (‚heiteres Drama‘) mit dem Untertitel 'Il Dissoluto Punito ossia Il Don Giovanni' ('Der bestrafte Bösewicht oder Don Juan'). Klaus Grünberg zeigt einen im zweiten Akt leicht variierten Acker mit Grube und Kohlköpfen, der im Mondschein-Zwielicht eher an einen Gottesacker erinnert und sich im zweiten Akt rot färbt. Silke Willretts anspielungsreiche Kostümierung wechselt zwischen grotesker Überzeichnung, Alltagsschick und wenig Erotik ausstrahlender, biedermeierlicher Unterhose.
Exzessive Grenzüberschreitung
‚Wo findet jemand wie Don Giovanni, der alles hat, alles kann, alles darf, Erfüllung?‘, fragt Tatjana Gürbaca im Programmheft und gibt in ihrer Inszenierung als Antwort: in exzessiver Grenzüberschreitung. Statt einen stolzen, selbstverliebten Adeligen zeigt sie einen rastlos suchenden, leicht verwahrlosten, von fortschreitender Krankheit gezeichneten, verrohten Protagonisten, der eigentlich nur in der Konfrontation mit dem Tode, von der hilfesuchenden, stützenden Umarmung des versterbenden Komturs berührt wird. Der Mord der 1. Szene wird hier zur eingefrorenen Umarmung zweier Liebender, der musikalische Moment des ausgehauchten Lebens zu einer melancholisch berührenden Empfindung, der Komtur zum oft in Erinnerung gerufenen Symbol des Todes, der Maskenball in Don Giovannis Schloss zur rauschhaften Liebesbegegnung jenseits aller Standesgrenzen.
Bei solch vielschichtig komplexer Analyse der sprachlichen und musikalischen Personencharakterisierung Mozarts, bei solch schauspielerisch und sängerisch engagierter Darbietung des GesangssolistInnen-Ensembles, bei solch umsichtiger Leitung Hartmut Keils, der auch die Rezitative auf dem Hammerklavier begleitete, wird dann auch deutlich, wie aktuell eine Jahrhunderte alte Oper sein kann. Meisterlich die virtuose Rastlosigkeit, in der Birger Radde die 'Champagner-Arie' schmettert. Diener Leporello ist hier eher der Don Giovannis Exzesse genießende, ihn hin und wieder ärgernde, mitmischende Freund, der den Tod seines Herrn als tiefgreifende Erschütterung erlebt. Christoph Heinrich spielte in der besuchten Vorstellung die körperlich anstrengende Rolle trotz Erkrankung, während Stephen Clark die Gesangspartie Leporellos übernahm.
Faszinierende Denkanstöße
Mima Millo verkörpert eine mit Doppelbödigkeiten und Lügengeschichten ausgestattete, wundervoll dramatisch vollmundige, klangschöne und virtuos kolorierende Donna Anna. Patricia Andress stellt eine ebenso widersprüchliche, schwangere Donna Elvira dar. KaEun Kim ist Zerlina und Benjamin Russel vom Hessischen Staatstheater Wiesbaden übernahm für Stephen Clark die Rolle Massettos. Das Theater Bremen zeigt mit Gürbacas 'Don Giovanni'-Neuinszenierung ein Denkanstöße vermittelndes, faszinierendes Musiktheater, dem als Motto ein Zitat aus der 'Dreigroschenoper' von Bertolt Brecht und Kurt Weill vorangestellt ist: ‚Erstens, vergesst nicht, kommt das Fressen, Zweitens kommt der Liebesakt, Drittens das Boxen nicht vergessen, viertens Saufen, laut Kontrakt. Vor allem aber achtet scharf, Dass man hier alles dürfen darf.‘
Kritik von Ursula Decker-Bönniger
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Don Giovanni: Dramma giocoso von W.A. Mozart
Ort: Bremer Theater,
Werke von: Wolfgang Amadeus Mozart
Mitwirkende: Hartmut Keil (Dirigent), Tatjana Gürbaca (Inszenierung)
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