Andris Nelsons, © Marco Borggreve
Nelsons dirigiert Schostakowitsch
Liebe & Terror
Für eine kleine Ewigkeit hätte man nach dem Verhauchen von Celesta und Streichern im hyperempfindlichen Klangraum der Elbphilharmonie die sprichwörtliche Nadel fallen hören können. Erst als Andris Nelsons sich aufrichtete und zugleich den linken Arm fallen ließ, begann der Applaus, zögerlich zunächst, doch dann immer stürmischer und nicht endend wollend. Sicher, wenn das Boston Symphony Orchestra unter seinem aktuellen Chefdirigenten in der Hansestadt zu Gast ist, ist die Aufmerksamkeit garantiert. Dass derartige Begeisterung jedoch durch die Vierte Sinfonie in c-Moll von Dmitri Schostakowitsch hervorgerufen wird, die wahrlich kein Publikumsliebling ist, bildet schon eine Besonderheit. Wirkt dieses mäandernde Riesenwerk aus drei Sätzen mit seinen rätselhaften Verläufen, Unwägbarkeiten und irdischen Längen doch auch heute noch kryptisch. Unter Nelsons jedoch erschloss sich das rund 70 Minuten lange Werk von 1936 wie ein Roman auf der Grenze von schriller Avantgarde und erzwungenem Traditionalismus, der vom stalinistischem Terror und Faschismus erzählt.
Grandios aufgespielt
Wo bei einem Mariss Jansons mittlerweile eher Altersmilde herrscht, ließ sein ehemaliger Zögling jedoch alle Zügel fahren, und ließ das riesenhaft besetzte Orchester – neun Hörner, vierfache Pauken, Glocken, mindestens dreifach, nach unten und oben erweiterte Holzbläser waren unter anderem dabei – furios, zuweilen ohrenbetäubend grandios aufspielen. Das reichte von infernalischen, bewusst isoliert da stehenden Blechbläserdissonanzen über rasende Streicherkanons bis zu wunderschöner dissonanter Polyphonie in den Flöten. Insgesamt hob Nelsons dabei eher den Bürgerschreck Schostakowitsch hervor, besonders im Kopfsatz waren hier teils krasse Schärfen zu vernehmen, die auf seine Opern 'Die Nase' oder 'Lady Macbeth von Mzensk' verwiesen, weniger auf den gedämpften Klassizismus, wie er ab der Fünften Sinfonie dominant wird. Doch nicht nur die mit perfekter Orchestertechnik drastisch inszenierte Schönheit des Schreckens oder die offenen Bezüge auf Mahler erwiesen sich hier als faszinierend. Das Boston Symphony Orchestra zeigte unter Nelsons auch, dass es die rätselhafte Partitur in allen ihren Irrungen und Wirrungen bis ins kleinste Detail durchschaut hatte, sodass die riesenhaften Ecksätze von über 20 Minuten Länge den Hörer kaum vor Verständnisprobleme stellten. Dies zumal der musikalische Sarkasmus nicht nur von den zahlreichen begnadeten Solisten – besonders große Rollen spielten hier Fagott, Posaune und des Öfteren auch die Tuba – kaum deutlicher hätte zur Schau gestellt werden können. Von grotesken Kuckucksrufen im Tutti über hämische Tänzchen in den Klarinetten bis zu hohle Betriebsamkeit darstellenden hektischen Repetitionen in den Streichern.
Verbundenheit mit Bernstein
Fast zu einer Randnotiz verkam da Leonard Bernsteins von der Liebe kündende 'Serenade nach Platons Symposium' in der ersten Konzerthälfte mit Baiba Skride als Solo-Violinistin. Streicher, Harfe und Schlagwerk des Boston Symphony Orchestra bewiesen jedoch mit einer Eindrücklichkeit, die von zarter Intimität in 'Pausanias' bis zu swingendem Überschwang in 'Sokrates' reichte, ihre starke Verbundenheit mit Bernsteins Musik. Skrides Tongebung reichte von betörendem Schmelz bis zu sehrender Hitze, wobei die Lettin die meiste Zeit zu den Streichern hingewandt spielte und so als Prima inter pares agierte. Auch für sie gab es am Ende herzlichen Beifall.
Kritik von Dr. Aron Sayed
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Boston Symphony Orchestra: Andris Nelsons
Ort: Elbphilharmonie,
Werke von: Dimitri Schostakowitsch, Leonard Bernstein
Mitwirkende: Andris Nelsons (Dirigent), Boston Symphony Orchestra (Orchester)
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