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Donnerstag, 30. März 2023

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„The Head and the Load” in der Kraftzentrale Duisburg., Copyright: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale 2018

„The Head and the Load” in der Kraftzentrale Duisburg., © Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale 2018

William Kentridges Dada-Kreation

Kanonenfutter

Hat man erst einmal die eineinhalbstündige, spektakuläre, transkulturelle Dada-Kreation William Kentridges gesehen, ist aller Wirbel um die politische Integrität der neuen Intendantin der Ruhrtriennale Stefanie Carp vergessen. 'The Head and the Load', eine installative, szenische Musiktheaterarbeit, die vor einigen Monaten in der Tate Gallery uraufgeführt wurde und zur Eröffnung der Ruhrtriennale 2018 nun in Duisburg gezeigt wird, thematisiert die Kämpfe im Ersten Weltkrieg auf afrikanischem Boden. Während Togo, Kamerun und Namibia schnell erobert wurden, leistete man im heutigen Tansania erbitterten Widerstand. Wieviele Schwarze für die europäischen Kolonialmächte kämpften, wird wohl für immer unbekannt bleiben. Etwa 200.000 sind es in der französischen Armee, circa eine Million im britischen Heer und 350.000 im deutschen. Aber all diese Zahlen sind Schätzungen, erfassen schon gar nicht das Ausmaß und Leid der Lastenträger, ihrer Zwangsrekrutierung und -arbeit.

Gleich zu Beginn des Abends überlagern sich Konferenzen und Schlachtfeldpläne, verdichten sich zu unverstandenen Befehlen. Nur mit der Stimme dargestellte Sirenengeräusche, Bombeneinschläge und Gewehrsalven erinnern an Schwitters polyphone und -glotte Stimmcollagen. Fähnchen schwingende Soldatinnen zeigen auf große, auf das Bühnenprospekt projizierte Pfeile, setzen magisch Orte auf Schlachtplänen in Brand. Zugleich blickt ein schwarzer Soldat in Uniform verständnislos um sich. Statt Helm trägt er eine kunstvolle, gigantische Kopfbedeckung aus Trichtern und Stuhl. Verwirrung und Überforderung macht sich breit und ist gewollt. Geschichte lässt sich, nach Kentridges Auffassung, nicht chronologisch, nicht geordnet abbilden, lebt von Chaos, transkulturellen Überschneidungen und Widersprüchen. In diesem Sinne spielen weiße und schwarze Darsteller, ein Chor aus Johannisburg, schwarze Tänzer und die Musiker des New Yorker Kammerorchesters The Knights teilweise simultan auf der etwa 70 m breiten Bühne.

Auch musikalisch prallen die Kulturen aufeinander. Philip Miller und Thuthuka Sibisi haben Sprachcharakteristika, Dada, Salonmusik, Nationalhymne, Minimal Musik, Call-Response- und afrikanische Sologesänge, Trommeln, afrikanische Harfe, Akkordeon, Klavier und Kammerorchester zu einer facetten- und abwechslungsreichen Komposition zusammengestellt. Ästhetische Prinzipien wie Ordnung und Chaos, Wiederholung und Variation bzw. Entwicklung leben auf und schillern, zum Beispiel wenn sich Marsch und starre, militärische Exerzierbewegungen – musikalisch durch rhythmische Schwerpunktverlagerungen – in körperlich fließende, afrikanische Tanzbewegungen verwandeln.

Zu den künstlerisch beeindruckenden Höhepunkten des Abends zählt die an eine schwarze Beerdigung erinnernde, auch von Musikern durchsetzte, langsam vorbeiziehende Trauerkarawane der Lastenträger. Ein Schiff aus dem Victoria-See wurde im Ersten Weltkrieg samt Inhalt zunächst auf die Bahn verladen, dann auf den Traktor und – wenn der Ochs starb – schließlich auf die schwarzen Carrier. Kentridge lässt dazu Schnipsel aus flüchtigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen groß projizieren. Was nicht alles – als letztes Glied der Transportkette – auf dem Kopf durch die Steppe geschleppt wurde! Manches, wie Räder, Grammophon oder Kanone, lässt sich identifizieren. Anderes ist nur noch als Knäuel vielfach ineinandergeschichteter Teile erkennbar. Zugleich wird der endlos wirkende, unter der Last einknickende Menschenzug als Schattentheater vergrößert und auf der gesamten Breite der Bühne verdoppelt. Wer damals nicht verhungerte oder verdurstete, starb an Typhus, Malaria oder Cholera.

Der Abend klingt mit dem Hinweis auf Befreiungsbewegungen und afrikanischen Machthabern aus. Und....beginnt von vorn!

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Kritik von Ursula Decker-Bönniger

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