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Szenenfoto, © Monika Rittershaus
Mozarts 'Idomeneo' in Zürich
Tristesse Royal: Königsdrama im Betonbunker
Egal von welcher Perspektive aus man es betrachtet: In der Geschichte rund um den griechischen König Idomeneus – einem der Helden der Troja-Sage, der sich im hölzernen Pferd verbarg und die geraubte Helena mitbefreite – steckt jede Menge Action. Das gilt auch für die Opera-seria-Fassung, die Librettist Giambattista Varesco aus dem Stoff destillierte und die Mozart 1781 vertonte. Da wimmelt es vor Seeungeheuern, die aus stürmischen Meeresfluten steigen und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen; auch sonst stürmt und braust es mächtig, die Straßen von Kreta sind mit Blut überströmt und mit Leichen überhäuft. Man könnte das Ganze für ein frühes Roland-Emmerich-Spektakel halten. Dazu kommt der packende psychologische Aspekt: Idomeneus (oder wie er bei Mozart heißt: Idomeneo) hat auf der Heimreise von Troja dem Gott Neptun gelobt, als Preis für seine Errettung aus einem fürchterlichen Unwetter, den ersten Menschen zu opfern, dem er nach der Heimkehr entgegenkommt. Dieser Mensch ist ausgerechnet sein eigener Sohn, den umzubringen Idomeneo jedoch nicht über sich bringt. Egal was für eine Rache der Götter (oder Neptuns) das nach sich zieht. Was zu einem packenden Thriller verdichtet wird.
Und für alle, denen das nicht genug ist: Da ist auch noch die Kriegsgefangene Ilia, trojanische Prinzessin, die sich in den Königssohn Idamante verliebt hat und damit in den Repräsentanten der Mörder ihrer Familie. Natürlich weiß sie, dass ihre Gefühle in jeder Hinsicht unpassend sind und sich für eine Geflüchtete nicht ziemen, woran sie die eifersüchtige Prinzessin Elektra, Tochter des Agamemnon, wiederholt erinnert. Denn Elektra will Idamante für sich: zwei Siegerkinder vorm Traualtar. Auch das geht in dieser Oper gehörig schief, da Idamante tatsächlich Ilia zurückliebt, was Eifersuchtsdramen hervorruft, die dem Konflikt Aida-Amneris-Radames in nichts nachstehen.
Mozart hat zu den stark kontrastierenden Szenen des Librettos eine explosive Musik geschrieben, die schon bei der Uraufführung im Münchner Residenztheater ein Erfolg war, bei dem viele barocke Theatereffekte zur Wirkung betrugen. Seemonster auf der Bühne hatten offensichtlich schon lange vor Hollywood und Gozilla Konjunktur. Am Ende erscheint sogar Neptun selbst - irgendwie - als Stimme aus dem Meer und führt alles zum Happy End.
Angesichts dieser Ausgangslage ist es mehr als verblüffend im MAG #55 des Opernhauses Zürich zu lesen, dass die holländische Regisseurin der jetzigen Neuproduktion, Jetske Mijnssen, behauptet, im Stück würde ‚äußerlich wenig geschehen‘. Mehr noch, ihrer Meinung nach wirke das Werk ‚stellenweise wie ein Oratorium‘, was sie vermutlich nicht als Kompliment ansieht. Das Erstaunen ist umso größer, wenn man bedenkt, dass 1980 Nikolaus Harnoncourt zusammen mit Regisseur Jean-Pierre Ponnelle ausgerechnet in Zürich die Sturm-und-Drang-Qualitäten des 'Idomeneo' neu entdeckt und damit quasi einen ‚Urknall für die Neubewertung und Wiederentdeckung‘ des Stücks ausgelöst hat. Auch das kann man dem MAG #55 auf Seite 1 entnehmen.
Knapp vier Jahrzehnte später offeriert die Oper Zürich nun eine Neuinterpretation in der von Knalleffekten, Stürmen und Drängen nicht die Rede sein kann. Stattdessen spielen die drei Akte in einem betongrauen Bunker mit kahlen Wänden, in dem sich modern wirkende Menschen in grauen Outfits bewegen und ab und zu um Holztische herum gruppieren. Auf denen stehen als einzige atmosphärische Auflockerung brennende Kerzen und Bilderrahmen (Bühnenbild: Gideon Davey, Lichtgestaltung: Frank Evin). Die Königsfamilie – also Idomeneo und Idamante – trägt militärische Mäntel, Ilia High Heels und Elektra/Elettra einen schick geschnürten schwarzseidenen Hosenanzug plus große Markendesignerpapiertüte. Optisch passiert sonst nichts, außer dass irgendwann die Bunkerwände mit einem riesigen quadratischen Loch in der Decke nach oben fahren und den Blick freigeben – auf einen leeren schwarzen Hintergrund.
Wenn das alles eine konzertante Aufführung in einem echten Bunker oder tatsächlichen Flüchtlingslager wäre, könnte es vielleicht eine gewisse Beklemmung und emotionale Überwältigung erzeugen. Als Neuinszenierung im Theater erzeugte es bei mir – und bei den meisten Leuten, die ich in der Pause sprach – eine schier grenzenlose Langeweile. Die sich beim Restpublikum darin äußerte, dass kaum geklatscht wurde nach den Arien. Das Züricher Publikum saß wohlerzogen schweigend da und applaudierte sogar zaghaft, als sich am Ende die Regisseurin mit ihrem Produktionsteam zeigte. Ein jugendlicher Enthusiast im Parkett ließ sich sogar zu einem Bravoruf hinreißen. Der blieb aber vereinzelt und löste keinerlei weitere Reaktionen aus. Der Großteil der Zuschauer verließ bereits zügig den Zuschauerraum. Ein Herr, der an mir vorbeikam, sagte zu seiner Begleitung: ‚Wenn ich für meine Karte bezahlt hätte, hätte ich gebuht!‘ (Offensichtlich ein lokaler Kritikerkollege.)
Dem Vernehmen nach hat Jetske Mijnssen andernorts schon sehr überzeugende Inszenierungen abgeliefert. Weswegen man fragen könnte, ob es nicht zur Sorgfaltspflicht eines Intendanten oder künstlerischen Leitungsteam gehören würde, einzugreifen, wenn man merkt, dass etwas in eine Sackgasse läuft? (Dramaturgie: Kathrin Brunner.) Scheinbar denkt man da in Zürich anders drüber, und Intendant Andreas Homoki pries in seiner Premierenfeieransprache das Unterfangen als insgesamt gelungene künstlerische Leistung. Was soll er auch sonst öffentlich sagen? Immerhin war zu dem Zeitpunkt der Hauptsponsor des Abends, die René und Susanne Braginsky-Stiftung, schon nicht mehr zu sehen … was man vielfältig interpretieren könnte.
Unglücklicherweise kam hinzu, dass die Solisten des Abends ihrerseits keine vokalen Höhenflüge ablieferten, die für die endlose optische Tristesse entschädigt hätte. Zwar waren alle Sänger technisch solide, aber sie wirkten durchweg anteilnahmslos und wenig brillant. Der Titelheld, der kanadische Tenor Joseph Kaiser, sah zwar mit rauschendem Vollbart blendend aus (manche werden ihn kennen aus dem Kenneth Branagh 'Zauberflöten'-Film, in dem er den Tamino singt), aber er verfügt nicht über eine strahlende Silbertrompete, um die koloraturintensiven Bravourarien des Königs ('Fuor del mar') mit dem nötigen Aplomb herauszuschleudern. Stattdessen lieferte er gepflegten monochromen Gesang, der nur davon gestört wurde, dass die Kostümbildnerin Dieweke van Reij den hühnenhaften Holzfällerhelden kurzzeitig in einen blaugrauen Slip steckte, in dem Kaiser in einer überflüssigen Fast-Nacktszene keine vorteilhafte Figur machte – obwohl er angezogen ein echter Hingucker ist. Vielleicht sollte der Slip die Zuschauer aufrütteln oder verstören?
Anna Stéphany in der Hosenrolle des Idamante verströmte edle, aber etwas anonyme Mezzotöne, während Hanna-Elisabeth Müller als Ilia sich nicht mal im Ansatz Mühe gab, aus der Figur und der überwältigend schönen Musik, die Mozart ihr gibt, lyrische Wärme zu erzeugen. Die berühmten Arien 'Se il padre perdei' und 'Zeffiretti lusinghieri' sollte man nicht einfach im Einheits-Mezzoforte herunterbuchstabieren, wenn man dabei ist, die entscheidenden Schritte in Richtung Weltkarriere zu machen. Das war stilistisch ein Armutszeugnis. Und die Chinesin Guanqun Yu als Elettra singt zwar laut Biografie im Programmheft auch die 'Trovatore'-Leonore von Verdi, ist aber eigentlich eine eher zarte Koloraturstimme, die in der Raserei der letzten Wahnsinnsarie ('D’Oreste, d’Aiace ho in seno i tormenti') sehr an ihre dramatischen Grenzen stößt; von mitreißender Hysterie war wenig zu spüren. Ein Showstopper für die Sopran-Diva in einer Seria-Oper sollte anders über die Rampe kommen.
Wirkliche Sturm-und-Drang-Erfahrungen bietet auch der zahme Dirigent Giovanni Antonini mit dem Orchestra La Scintilla kaum. Zwar ist der Klang an historisch informierter Aufführungspraxis geschult und es gibt viele wunderbare Instrumentaldetails, aber mitreißend ist das Dirigat nicht. Vor allem in den berüchtigten Meerestoben-und-Monsterszenen mit Chor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) beschränkte sich der Einsatz von Windmaschinen auf ein bescheidenes Fiepen aus dem Off, wo eigentlich die Klangwellen über den Zuhörer hinwegschwappen sollten. Offensichtlich traute sich niemand, tief in die Theatereffektkiste zu greifen, auch nicht die klangliche.
Am Ende war diese Premiere keine Mozart-Sternstunde und kein neuerlicher ‚Urknall‘ der Rezeptionsgeschichte, sonder ein einfallslos arrangiertes Schlummerstündchen, von dem tragischerweise nur der graublaue Slip der Königs von Kreta nachhaltig in Erinnerung bleibt. Was aber sicher nicht im Sinn von Mozart/Varesco ist. Und auch unfair gegenüber Joseph Kaiser ist, der demnächst übrigens den Lohengrin singen wird. Was mich mit einigem Staunen erfüllt.
Jetske Mijnssen und der Operndirektorin von Zürich, Sophie de Lint, würde ich währenddessen dringend empfehlen, sich in London die Ausstellung ‚Opera: Passion, Power and Politics‘ im Victoria & Albert Museum anzuschauen, wo es unter anderem das Modell eines Seebühnenbildes gibt, an dem man studieren kann, wie solche Meeresrauscheneffekte in der Oper erzeugt wurden. Ein Blick in jede x-beliebige Fantasy-Serie könnten darüber hinaus zeigen, wie man solche Effekte heute erzeugen kann. Es müssen nicht gleich die fliegenden Drachen aus ‚Game of Thrones‘ sein und die Schlachtenszenen aus dem Finale von Staffel 7, aber etwas mehr als kahle Bunkerwände und Menschen in Grau (und sonst gar nichts) wäre schon wünschenswert.
Kritik von Dr. Kevin Clarke
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