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Grigory Sokolov, © Ansgar Klostermann
Grigory Sokolov in der Alten Oper Frankfurt
Die Welt jenseits der Töne
Abgedunkelt mystisch muss er sein: der große Saal der Alten Oper in Frankfurt. Orgelpfeifen glimmen metallisch bronzen im Hintergrund. Auf der Bühne: ein Steinway-Flügel. Grigory Sokolov spielt, philosophiert. Es sind Gespräche, Monologe eines Einsamen, der über die Fülle des Augenblicks in die Welt hinter den Tönen blickt. Wir hören, schauen in die Zeit - die Zeit Joseph Haydns, als jener 1761 die ‚Stellung seines Lebens‘ beim Fürsten Paul Anton Esterházy von Galántha fand, dreißig Jahre blieb, unbeirrt wirkte und lebte, nach London reiste oder in Wien die Übergangszeit vom Cembalo zum Hammerklavier mit seinen über 50 Sonaten für das Pianoforte erkundete. ‚Ich war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden‘, sinnierte Joseph Haydn einmal. Und, es scheint als lenke Grigory Sokolov unaufdringlich präsent, hochkonzentriert musizierend unsere Aufmerksamkeit in jene Zeiten zwischen1770 und 1775.
Die Haydn-Sonaten Hob. XVI: 44, 32 und 36, allesamt in Moll gehalten, bilden den ersten Part des Abends. Sie atmen luftig kühn, schlagen keinerlei Kapriolen unter Grigory Sokolovs virtuos kühlem Timbre des Anschlags. Sokolov schildert Seelenzustände, Gemütsregungen, die nie unbeherrscht, sondern stets nüchtern, klar und unbeirrbar die Geisteshaltung Joseph Haydns als großen erkennenden musikalischen Philosophen seiner Epoche offenlegt. Klingende Welten ohne Puderzucker und Sentimentalität.
Nach der Pause dann die jeweils zweisätzigen Beethoven-Klaviersonaten opp. 90 und 111. Beides Seelenbilder in Moll, die Ruhe, Friede, Überschwang und Vergeistigung der menschlichen Seele zugleich atmen. Monolithen der Klavierliteratur. ‚Das wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach ist das Alte, die Beethovenschen Klavierwerke, besonders die Sonaten das Neue Testament‘, so Hans von Bülow, der als einer der berühmtesten Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts galt und einer der ersten Herausgeber der 32 Sonaten Ludwig van Beethovens war.
Fast zerbrechlich gerät die Melodie im zweiten Satz der Sonate Nr. 27 Moll, sie schimmert wie ein sanfter Hauch. Grigory Sokolov tastet sie ab, erfühlt sie, weiß um ihre Anmut. Spürbar dehnt er durch bis an die Grenze ausgelotete Tempi die zerrinnende Zeit. Es ist, als ob schmerzensreiche Innenräume sachte betreten, dann fliehend verlassen werden. In der 'Arietta' der zweisätzigen c-Moll-Sonate op. 111, die den Abschluss im Klavierschaffen Beethovens bildet, erleben wir Sokolov als genialen, philosophischen Künstler. Einer, der uns in seiner Demut zum Werk das höchste, vollkommenste Glück offenbart. Dann wie immer zahlreiche Zugaben: Schubert, Rameau und Chopin. Und im Publikum: standing Ovations.
Kritik von Barbara Röder
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Grigory Sokolov : Klavierabend
Ort: Alte Oper,
Werke von: Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Jean-Philippe Rameau, Frédéric Chopin
Mitwirkende: Grigorij Sokolov (Solist Instr.)
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Bisherige Kommentare:
- Gegenwelten
Wer vollendetes Klavierspiel erleben möchte, kommt zur Zeit (und wohl noch lange) nicht an dem chinesischen Wunder Yuja Wang vorbei. Ich möchte dazu nicht viel sagen. Nur soviel: Ein Kritiker schrieb, bei ihr höre man z.B. Beethovens Klavierkonzerte eins und zwei wie zum ersten Mal. Höher geht es eigentlich nicht. Und die Kritikerin der Frankfurter Neuen Presse ergeht sich in Hymnen. - Es ist alles da: unglaubliche Präzision, Durchsichtigkeit, Farbenvielfalt, Anschlagskunst, Pedalbeherrschung vom Feinsten, Frische, sprühende gute Laune in den Finalsätzen . . und der "Ausdruck" ergibt sich wie von selbst. Dazu eine bezaubernd natürliche (knapp gewandete!) junge Frau als Augenweide... Für die, die neugierig sind: (leider nur als audio) radioclassique.fr/magazine dann replay und réécouter un concert- Da kommt das mit dem Frankfurter fast identische Pariser Konzert (zweimal Beethoven, dafür ohne Chopin). Viel Vergnügen
Nutzer_MYCSPQQ, 15.11.2017, 13:41 Uhr - Was fehlt
Sokolovs Grenzen zeigen sich besonders an seinem Chopin-Spiel (z.B. Préludes). Chopin verlangt vor allem Brillanz, Eleganz, muß ganz vom Instrument her empfunden und gespielt werden. Da ist die Virtuosität oft die Sache selbst. Mit "Tiefe" allein verfehlt man das Eigentliche, zu seiner Zeit absolut Neuartige des genialen Komponisten und Pianisten. Das leichtfüßig Dahinfließende (nicht Oberflächliche!), Tänzerische, ein wesentliches Element dieser Musik, ist Sokolovs Sache nicht. So wirkt sein Chopin ausgesprochen schwerblütig, sozusagen überinterpretiert.
Nutzer_MYCSPQQ, 15.11.2017, 12:25 Uhr - Sokolov der Priester
Die Kritik von Frau Röder reiht sich in die vielen anderen ein, die sich auch im undurchdringlichen Halbdunkel bewegen. Viel Geraune, wenig Greifbares. Über das eigentlich Wichtige, das Klavierspiel, erfährt man wenig. Stattdessen "philosophische" Anmutungen. Man hat wie stets bei Besprechungen zu Sokolov den Eindruck einer quasi religiösen Veranstaltung. - Hört man z.B. die Arietta aus op. 111 von Sokolov, so kann von molte semplice keine Rede sein. Wahrscheinlich kann dieser geniale Musikdarsteller gar nicht "einfach" spielen. Bei ihm wird jeder Komponist am Ende zu "Sokolov". Alles wird mit "Bedeutung" aufgeladen und wird mit der Zeit doch recht langweilig. Aber die Gemeinde schert das nicht. Sie hat sich ein für allemal entschieden, ein Jahrhundertgenie vor sich zu haben und ihr kritisches Urteil zuhause gelassen.
Nutzer_MYCSPQQ, 14.11.2017, 21:59 Uhr - Überragend!
Es gibt sie noch, die besonderen Momente im Konzert. Wunderbar, dass Sie auch in einer Kritik gebührend gewürdigt wurden. Und ebenfalls wunderbar zum Nachlesen und Wieder-Erleben.
Nutzer_ESHOIRX, 14.11.2017, 11:59 Uhr - Macht grosse Lust, in dieses Konzert zu gehen
Freue mich immer über die Kritiken von Frau Röder, die eine echte Kennerin klassicher Musik ist. Es macht Freude, ihre Leidenschaft für Musik zu lesen.
Nutzer_NIYBVOZ, 13.11.2017, 22:15 Uhr
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Der Pianist und Organist Aurel Davidiuk im Gespräch mit klassik.com.
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