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Thomas Blondelle, Rachel Harnisch, Seth Carico, © Bernd Uhlig
Aribert Reimanns "L'Invisible" in Berlin
Faszinierende Uraufführung
‚Das es so gut würde, habe ich nie gedacht‘, gesteht Aribert Reimann nach vier Jahren Vorbereitungszeit sichtlich berührt bei der Premierenfeier. Gemeint ist seine neueste Kompostion 'L’Invisible', die an der Deutschen Oper Berlin in Französisch mit deutschen und englischen Untertiteln zur Uraufführung kam und begeistert gefeiert wurde.
Es ist tatsächlich eine lakonische Meisterkomposition. Als literarische Vorlage dieser Trilogie lyrique dienten drei Theaterstücke des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck. Übergreifendes Thema ist der Tod und die damit verbundenen Ängste, Träume und Alpträume, die Aribert Reimann als komplementierte Toncluster und Todesakkorde hörbar macht. So fein, transparent und spannend dirigiert Donald Runnicles diese Komposition, dass sich die drei symbolischen Kammerspiele allein schon durch die tonalen Strukturen erschließen, wobei das lakonische, mehrdeutige Libretto ein zusätzlicher Genuss dieser Oper ist.
'L’Invisible', der Unsichtbare, ist der Tod. Er dringt in drei familiären Situationen ein und ist permanent als Angstzustand vorhanden. In 'L’Intruse' (Der Eindringling) sitzt eine Familie zusammen und wartet auf einen weiteren Verwandten, während die Mutter noch im Kindsbett mit dem Tode ringt. Streicher bauen das nervenzerreibende, lähmende Warten klanglich in Clustern der einzelnen Streichergruppen auf. Als die Mutter stirbt, schreit das Kind zum ersten Mal. Ein extrem dissonanter Holzbläserakkord wird zum Todesmotiv und leitet über zu 'Intérieur'. Hier beobachten ein Alter und ein Fremder durch ein Fenster eine Familie, deren Tochter sich im Fluss das Leben genommen hat. Als sie die Botschaft überbringen, werden sie selbst von der Dorfbevölkerung durch das Fenster beobachtet, wodurch sich die Außenperspektive verdoppelt. Der kammerspielmäßige und teilweise solistische Einsatz nur der Holzbläser verstärkt die Intimität und gleichzeitig den Druck von außen.
Im dritten Teil 'La mort de Tintagiles' (Der Tod Tintagiles’) wollen zwei Schwestern ihren kranken Bruder vor dem Tod retten und lesen ihm im Krankenbett noch Märchen vor. Doch das Märchen verselbständigt sich in einen Alptraum, und der Alptraum realisiert sich als unabwendbares Todesschicksal. Zunächst wieder alternierend fusionieren im Moment der Entführung Tintagiles’ alle Instrumente zu einer durchdringenden Todesdissonanz.
Entsprechend sind die Gesanglinien fragmentiert, oft im Sprechmodus, immer wieder nahe am angstbedingten Zerschellen. Bis auf eine Ausnahme durch Ensemblemitglieder bestens besetzt, zeigt sich hier einmal mehr die Qualität des Deutschen Theaters. Seth Carico (Vater, Stephen Bronk (Großvater, Alter, Aglovale), Thomas Blondelle (Onkel, Fremder), Annika Schlicht (Marthe, Bellangère) und ganz besonders Rachel Harnisch (Ursula, Mari Ygraine) begeisterten durch stimmliche Prägnanz und durchdringendes Stimmvolumen. Nur Reimanns angedachte Countertenöre der Zwischenspiele konnten nicht besetzt werden. Tim Severloh, Mattew Shaw und Martin Wölfel übernahmen die Partien souverän als Tenöre.
Die enorme Wirkung dieser Uraufführung ist aber auch ganz stark dem Bühnenteam zu verdanken. Der russische Regisseur Vasily Barkhatov weiß um die Ohnmacht gegenüber der politischen Macht und lässt in der individuellen Todesangst im dritten Teil die gesellschaftspolitischen Auswüchse unserer Zeit aufleuchten. Durch das gekonnte Zusammenspiel von Bühne (Zinovy Margolin), Kostüme (Olga Shaishmelashvili), Licht (Ulrich Niepel) und Videoprojektionen (Robert Pflanz) verwandelt sich die vertraute Realität über Märchen- und Traumstrukturen in den Alptraum unserer Tage. Todesängste verwandeln sich zu Metaphern von Macht, Ohnmacht, Widerstand, wachsen zu gigantischen Schattenprojektionen, dem der Junge Tintagiles - Salvador Macedo spielt ihn sehr natürlich - im Traum ein kleiner Ritter mit Spielzeugschwert und Papierkrone unterliegen muss. Uneinnehmbar ist der Turm der königlichen Großmutter, höchst gefährlich agieren ihre Dienerinnen in Reifröcken aus prall gefüllten Müllsäcken, wenn sie als Rieseninsekten projiziert über die Monumentalfassade krabbeln. In einem schwarze Tor lauert der Terror. Die schwarze Limousine darin fackelt ab. Tintagiles kann nicht entkommen. Er verbrennt, fällt aus dem Fenster, stirbt im Krankenzimmer. In dreifacher Spiegelung symbolisiert er den Tod der jungen Generation durch Terror, Umweltzerstörung und Machtintrigen. Diese Uraufführung wird in die Operngeschichte eingehen.
Kritik von Michaela Schabel
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L'Invisible: Trilogie lyrique von Aribert Reimann
Ort: Deutsche Oper,
Werke von: Aribert Reimann
Mitwirkende: Donald Runnicles (Dirigent), Orchester der Deutschen Oper Berlin (Orchester), Rachel Harnisch (Solist Gesang), Seth Carico (Solist Gesang), Stephen Bronk (Solist Gesang)
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Der Pianist Herbert Schuch im Gespräch mit klassik.com.
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