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Marc Kugel (Raimondo), Kyung Chun Kim (Enrico), © Peter Litvai
'Lucia di Lammermoor' in Landshut
Von der Liebe zum Wahn
Eine wahre Festspieloper ist Donizettis 'Lucia di Lammermoor', immerhin gilt sie als Glanzstück des Belcanto. Ein Musiktheater muss schon gut aufgestellt sein, um diese Oper präsentieren zu können. Für das Ensemble des Landestheater Niederbayerns ist das keinerlei Problem, dennoch wurde Gastsängerin Judith Spiesser für die Titelrolle engagiert und Sebastian Reckert bzw. Philipp Marguerre spielen die Glasharmonika, in lauer Sommernacht open-air ein ganz besonderer und rarer Genuss.
Unter der Leitung von Basil H. E. Colman ist die Oper in jeder Beziehung ein Hörerlebnis. Wunderbar harmonieren Orchester und Gesang, die Timbres der Stimmlagen und der Chor. Sanft, gleichzeitig sehr ausdrucksstark, unterstreicht die Niederbayerische Philharmonie Donizettis glanzvolle Arien. In gleitender Dynamik verändert sich subtil die Atmosphäre durch die Phrasierung der Streicher, immer wieder bauen sie sich zu wuchtiger Emotionalität auf. Kristallklar akzentuiert das Orchester in der sogenannten Wahnsinnsarie das Leitmotiv wie ein Echo, bis es mit Lucias Leben verhaucht.
Unter der gekonnten, detaillierten Personenregie von Johannes Reitmeier, vielen Theaterbesuchern als Intendant im Landshuter Stadttheater (1996 - 2002) noch in Erinnerung, gelingt eine schauspielerisch dynamische Inszenierung, die die psychologischen Möglichkeiten dieser schauerromantischen Oper bühnensymbolisch und szenisch ausleuchtet. Nicht die Verfeindungen à la "Romeo und Julia" stehen im Mittelpunkt, sondern die psychotischen Abgründe der Protagonisten. Das Libretto sollte man deshalb kennen, um Reitmeiers Regie würdigen zu können, zumal auf eine Übertitelung verzichtet wurde.
Reitmeier fokussiert schon in der Ouvertüre auf Enricos persönliche Obsessionen und den unheilvollen Ausgang. Eine schwarzer Urnenmauer mit vergitterten Türen, Metallnetze an den Seiten, Chor und Protagonisten in schwarzen Kostümen vergegenwärtigen das unheilschwangere Leben zwischen Gefängnis und Tod (Bühne/Kostüme Michael D. Zimmermann), die Hirschgeweihe an der Wand den omnipräsenten Machismo, zuweilen auch witzig, wenn aus mancher Zuschauerperspektive die Geweihe Enricos oder Edgardos Kopf hörnen.
Enrico verspielt sein Vermögen. Deshalb zwingt er seine Schwester Lucia in die Ehe mit dem reichen Arturo. Den zeichnet Maskenbildnerin Maria Hirblinger als uralten, widerlichen Lustmolch. Jeffrey Nardone singt und spielt ihn gekonnt als schmierigen Alptraum, als gierig züngelndes Ekelpaket. Mehr Schauerromantik-Klischee geht nicht. Die Hochzeit mutiert zum Begräbnis. Blutrot ist das weiße Unterkleid Lucias. Vergewaltigte oder Mordende? Das bleibt offen. Und Reitmeiers Version eröffnet noch neue Psychodramatik. Lucia schlitzt sich zwar die Pulsadern auf, aber sie stirbt nicht daran, sondern in der tückischen Umarmung des Bruders, der sie herzlos erstickt. Kyung Chun Kim spielt diesen obsessiven Säufer und Spieler mit stählerner Haltung, eisernem Griff, kaltem Blick und dem gebieterischen Tonvolumen der Macht. Dass man zuweilen die stimmliche Anspannung hört, passt durchaus zur Rolle. Am Schluss hält er die Pistole an die eigene Schläfe. Der Schuss fällt nicht. Doch Enricos Schicksal scheint besiegelt. Der Geistliche steht hilflos daneben. Marc Kugel gibt ihm durch seine mitfühlende Basstiefe und körperliche Präsenz versöhnliche Züge, die allerdings nichts bewirken und die Bedeutungslosigkeit des Klerus spiegeln.
Das ist in sich logisch und inklusive Chor bestens inszeniert, weniger überzeugend allerdings die Entwicklung Lucias. Judith Spiesser als Schulkind in einen altbackenen Kleiderrock, weiße Bluse und Schulranzen zu stecken, passt weder zu ihrem Typ noch zu Donizettis Libretto. Warum sollte sich ein leidenschaftlicher Macho wie Edgardo mit tätowierten Armen, zwischen Prolet und Rebell angesiedelt, durch Victor Campos Leals kraftvollen Belcanto-Tenor mit expressiven Herz-Schmerz-Facetten klangvoll interpretiert und schmissig gespielt, in eine so zugeknöpfte graue Maus verlieben? Da wäre die Gouvernante im Nonnenoutfit, mit Claudia Bauer sehr kess, charmant und jugendlich dargestellt, schon naheliegender. Die Wertbegriffe von Lucias Erziehung dann noch schulmeisterlich auf der Tafel mit Kreide und Zeigestab einzupauken, wirkt genauso altbacken.
Erst in Edgardos duftigem Brautkleidgeschenk kann Judith Spiesser ihren Liebreiz als Mädchenfrau entwickeln. Im Duett und in tänzerischer Bewegung findet die Liebe der beiden eine innigliche Expression zwischen seinem wilden Temperament und ihrer zärtlichen Hingabe. Noch überzeugender wirkt Judith Spiesser als Braut in Schwarz in ihrem resoluten Ekel vor Arturo. In ihrer Verzweiflung verwandelt sie sich wieder in die Mädchenfrau, mehr verstört als wahnsinnig, klar, engelsrein, mit berauschender Leichtigkeit, extremen Dynamikwechseln und emotionaler Tiefe kolorierend. Allein, es fehlt Judith Spiesser in diesem Rollendebüt noch der schaurige Gänsehauteffekt in den abgründigen Wahnsinnskoloraturen. Diese Open-air-'Lucia di Lammermoor' macht auf jeden Fall neugierig auf eine zweite Vorstellung im geschlossenen Raum mit Emily Fulz und deren Lucia-Interpretation.
Kritik von Michaela Schabel
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Lucia di Lammermoor: Oper von Gaetano Donizetti
Ort: Stadttheater,
Werke von: Gaetano Donizetti
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