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vlnr.: Niels Bormann (Schauspiel), Caroline Peters (Schauspiel), © Caroline Seidel
"Kein Licht" bei der Ruhrtriennale
Wasser, Winseln und Heulen
Duisburg-Meiderich. Ein still gelegtes Stahlwerk in einem Landschaftspark. Schornsteine, gerostete Rohre gewaltigen Ausmaßes, Schienenanlagen und Maschinenräume rufen imposant die Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erinnerung. Die lang gezogene, noch aus dem Gründungsjahr stammende Gebläsehalle, die mit ihren zugemauerten Rundbogenfenstern eher an ein Kirchenschiff erinnert, ist der ideale Theaterraum für das Auftragswerk der Opéra Comique in Paris, die Welturaufführung 'Kein Licht' (2011/2012/2017) der diesjährigen Ruhrtriennale.
'Kein Licht' passt nicht in herkömmliche Gattungsbezeichnungen. Es ist lebendiges, improvisiert wirkendes, vielschichtiges Schauspiel und Musiktheater zugleich. Es wirkt fremd, absurd, abgründig, schwarzhumorig und entwickelt sich im Laufe des Abends vom Oratorium zur ‚apokalyptischen Endzeitparty’. Neben den Schauspielern Niels Bormann und Caroline Peters wirken die Gesangssolisten Christina Daletska (Alt), Lionel Peintre (Bariton), Sarah Sun (Sopran) und Olivia Vermeulen (Mezzosopran) mit. Ebenso das Vokalquartett Croatian National Theater Zagreb und das Orchester United Instruments of Lucilin unter der Leitung Julien Leroys.
Komponist Philippe Manoury prägte für dieses Work in Progress den Begriff ‚Thinkspiel’ – in Anlehnung an das Singspiel des 18. Jahrhunderts. Auch dieser Abend kommt heiter und leicht daher, will im Wechsel von gesprochenen Dialogen und Musiknummern unterhalten und ein bisschen belehren. Dabei ist Manourys Musik wie ein filigraner Klangteppich, der auch bei melodramatischer Zuspitzung - bis auf metallen wirkende Akkordschläge am Ende - nie aufdringlich wirkt. Vorkomponierte Chornummern und Arien, elektronische und orchestrale Abschnitte wurden in aufwendigen Probenprozessen immer wieder neu zusammengestellt. Sie entrücken das Bühnenspiel, schaffen Raum für Reflexion und neue Ebenen. Selbst am Abend der Uraufführung sitzt der Meister am Mischpult, um elektronische Veränderungen live vorzunehmen. Oder um das Mikrofon in die Hand zu nehmen. Dann unterbricht er das Bühnenspiel, trägt Informationen über die Motivation der Texte vor, dämpft mit einfachen deutsch-französischen Vergleichen die Überheblichkeit nach dem Atomaussstieg oder informiert über die Musikkomposition.
Textgrundlage des Thinkspiels 'Kein Licht' ist das gleichnamige Theaterstück, das sich Elfriede Jelinek im Jahre 2011 nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima von der Seele schrieb. Hinzu kamen die Texte ‚Epilog?’ aus dem Jahre 2012 und ‚Der Einzige, sein Eigentum (Hello darkness, my old friend)’, den die Schriftstellerin 2017 als Reaktion auf die Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump verfasste.
Im Bühnenspiel von Nicolas Stemann und Philippe Manoury hat zunächst ein perfekt dressierter Foxterrier das Wort. Während er auf einem 3000 Liter fassenden Gefäß mit neongelb strahlender Flüssigkeit steht, einsam in die Leere jault und elektronisch vervielfacht wird, improvisiert eine gestopfte Trompete. Zugleich verweisen Orchesterpodest und -pulte darauf, dass eine Werkaufführung bevorsteht. Das mit klassischen Orchesterfarben ausgestattete Kammerensemble United Instruments of Lucilin und ein präparierter Flügel blicken nach links, auf den musikalischen Leiter Julien Leroy, während sich die in glitzernde Abendkleider gewandeten Darsteller vor dem Publikum verneigen.
Virtuos die Sprache beherrschend wechseln die Schauspieler Caroline Peters und Niels Bormann zwischen den assoziativen Ebenen der Jelinek-Texte, reagieren auf die Musik, spielen mit Verwirrung, Betroffenheit, Selbstmitleid und Rolle.
Schutzanzüge werden angezogen, der Raum beginnt unerbittlich neongelb zu strahlen. ‚Wir werden nichts anderes tun können als strahlen‘. Man fügt sich. Wenn in solchen Momenten Gesang, Sprache und Musik zusammenkommen, beginnt man etwas von der Überwältigung des Moments zu erahnen. Dann der Neubeginn: ‚Wir schaffen das!’, ‚Wir steigen aus!’ Musikalisch betrachten Arien und Lamenti die Haltung gesellschaftlicher Verharmlosung.
Es folgt eine Flucht ins Absurde. ‚Ab in die Kiste, ich hol sonst Jürgen Trittin’, versuchen die Eltern ihr Kind Atomi in einem humorvollen Intermezzo zu bändigen, während sich die Roboterpuppe auf den Wänden des Theatersaals vervielfältigt.
Schließlich Stromausfall, Videobilder einstürzender Gebäude und hereinbrechender Wasserfluten. Philippe Manoury informiert über den Zusammenhang von Zufall, Chaos, Wahrscheinlichkeit, Technik und Komposition im 21. Jahrhundert. Auch die Bühne wird von einem einbrechenden Wasserfall geflutet. Verwirrt unterbrechen die Schauspieler ein Chorstück. Auch das Bühnenwasser strahlt. Man schützt sich mit Gummistiefeln. Die Trump-Wahl kommentiert Peters mit den Worten: ‚Es war wichtig für ihn, er musste es werden, jetzt will er nicht mehr, aber er ist es.‘ Orchestergewitter und Elektronik malen Chaos und Zusammenbruch.
Während wehmutsvoll und melancholisch ein Alt-Abgesang mit dem Nietzsche-Zitat: ‚Oh Mensch gib Acht, was spricht die tiefe Mitternacht’ auf die explodierende Welt erklingt, verabschieden sich die Schauspieler zufrieden ins All. Ein nachdenklich stimmendes Ende, in dem die Absurdität von Kunst und gesellschaftlichen Entwicklung noch einmal zugespitzt wird.
'Kein Licht' ist ein langer, bildstarker, wortgewaltiger Theaterabend, der verschiedene Lesarten zulässt. Politik, Kunst und gesellschaftliche Wirklichkeit, Video, Licht, gesprochenes Wort, Gesang und Musik verbinden sich zu einem mitunter kunstvoll ineinandergreifenden, momentanen Spiel, das die absurden Assoziationen der Jelinek-Texte wirkungsvoll vor Augen führt.
Kritik von Ursula Decker-Bönniger
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