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Semperoper Dresden, © Tilman2007
Busonis 'Doktor Faust' an der Semperoper Dresden
Repertoirewert bewiesen
Nach fast 92 Jahren kehrt Ferruccio Busonis unvollendetes Bühnenwerk an den Ort seiner Uraufführung zurück – diesmal in der erst 1984 sorgsam nach Skizzen des Komponisten vervollständigten Fassung des Musikwissenschaftlers Antony Beaumont. Regisserur Keith Warner setzt den schwierigen Stoff gekonnt in Szene, streut nur sporadisch eigene Ideen ein und ermöglicht so einen guten Zugang zur Oper ‚in zwei Vorspielen einem Zwischenspiel und drei Hauptbildern‘. Schon die Bezeichnung deutet das Fragmentarische des Werkes an: Um Einheit zu wahren und eine schlüssige Dramaturgie zu gestalten, treten einzelne Einfälle als roter Faden wiederholt auf, und die Szenen werden in unterschiedliche Zeiten verlegt.
Time Travel Trip
‚O, lass mich die Welt umfassen, der Menschen Tun begreifen, es ungeahnt erweitern; gib mir Genie, gib mir auch sein Leiden‘, fordert Faust. Mephisto schickt ihn in dieser Inszenierung daraufhin auf eine anachronistische Zeitreise durch die – amerikanisch dominierte – Geschichte des 20. Jahrhunderts. Einflussreiche Größen wie Albert Einstein, Andy Warhol und sogar der Komponist selbst, aber auch Leni Riefenstahl und Adolf Eichmann erscheinen neben Aktivisten der Homosexuellenbewegung und Vietnamkriegsgegnern. Der Disput zwischen den Konfessionsgruppen im zweiten Bild ist hier einer zwischen rebellischen Achtundsechzigern und prüdem Bürgertum der 50er, übertragen aber auch der Konflikt zwischen blankem Hedonismus und Bildungsidealismus, zwischen Naturverbundenheit und Fortschrittsglauben. Im Intermezzo zuvor sind es Wehrmachtssoldaten, die den – hier britischen – Soldaten und Bruder ‚des Mädchens‘ grausam totschlagen. Gretchen wird bei Busoni ausgespart, Warner lässt sie jedoch als stumme Rolle kurz auftreten und ihr Baby morden. Die Partie ihres Bruders zeigt Sebastian Bartig mit sicheren Höhen und kämpferischem Elan.
Ein starkes Duo
Lester Lynch als Faust imponiert nach anfänglichem Einfinden mit markigem Bariton und bestimmtem Spiel. Nach der Pause fährt er schließlich ganze Stimmkraft auf und beweist ungeheure Ausdauer in nicht enden wollenden Gesängen. Auch Mark Le Brocq braucht seine Zeit; der undankbare Einstieg fällt ihm schwer. Mit professionellem Selbstbewusstsein fängt er sich jedoch schnell und bietet einen stimmlich strahlenden und durch Mark und Knochen dringenden Mephisto dar. Er verleiht der diabolischen Figur den nötigen Witz, der nie persifliert, sondern durch das Kippen in existenzielle Kaltblütigkeit befremdlich erschüttert. Schon beim Auftritt der Sechs Geister, die Faust mithilfe des Buches Clavis Astartis Magica beschwört und von denen Mephisto der sechste ist, wird das komische Moment durch skurrile Maskierung eingeführt.
Abstraktionen auf der Bühne
Wie gut die Regie Busoni verstanden hat, wird durch die Lektüre des Ästhetikers ersichtlich: ‚Und lasset Tanz und Maskenspiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe‘, schreibt er in seinem ‚Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst‘. Die zahlreichen Orchesterpassagen begleiten schemenhafte Tanzeinlagen (Choreographie: Karl Alfred Schreiner). Tilo Steffens’ vielgestaltiges Bühnenbild wechselt rasch die Szenerie einer monumentalen Säulenhalle zu verfallener Kirche oder herrscherischem Treppenaufgang. Ebenso arbeitet John Bishops pointiert eingesetztes Licht – mal herausstellend, mal verschleiernd – der Bühnenerzählung zu. Abwechslung bringen auch die oft historisch orientierten, aber auch mal surreal ausschweifenden Kostüme von Julia Müer.
Magische Melodien
Busonis musikalische Mittel zielen stets auf die Vermittlung des Dramas; trotz wundervoller Melodik ist da kein Platz für Klangbaderei oder Schnörkel (vom Verismus wendete sich der Komponist besonders ab). Unter dem Dirigat von Tomáš Netopil, der sich bereits 2008 an der Bayerischen Staatsoper mit dem Werk vertraut machte, präsentiert die Sächsische Staatskapelle eine farbenreiche und durchsichtige Interpretation dieser einzigartigen Musik. Die kongeniale – für die Zeit nicht ungewöhnliche, aber in ihrer Verwendung äußerst originelle – Instrumentierung und Stimmbehandlung meistern die Musizierenden eindrucksvoll. Der Sächsische Staatsopernchor (der bald seinen 200-jährigen Geburtstag feiert!) berauscht durch gewaltigen Klang, geisterhafte Töne aus dem Off und hingebungsvolles Spiel. Verlust der Akkuratesse zwischen Bühne und Graben korrigiert Netopil mit wachem Geschick. Von den unzähligen und durchwegs solide besetzten Nebenrollen beeindrucken besonders der Bass Magnus Piontek als Zeremonienmeister und erste Geisterstimme sowie der Tenor Jürgen Müller als Leutnant und vierte Geisterstimme.
Liebe und Leben: was gezeugt, das bleibt
Letztendlich sehnt sich der weise Faust essenziell nach Liebe – das verdeutlicht Warner. Bringt die Geschichte des Gretchens nur am Rande in Erscheinung, ist Fausts große Liebe bei Busoni die Herzogin von Parma. Manuela Uhl brilliert in der einzigen Frauenpartie des Abends durch sängerische Agilität und szenische Emotion. Ihr Mann, präsent von Michael König gegeben, wird als machtschwacher Herzog passend ausgedeutet. Hilflos und nicht wahrhaben wollend sieht er der Ver- und Entführung seiner Gattin zu, deren Tod später von Mephisto gegenüber Faust hämisch verkündet wird. In alptraumhafter Vision erlebt Faust, wie sein Lehrstuhl vom Schüler Wagner übernommen wird – Michael Eder gibt diesen mit glaubhaft gespielter Unsicherheit und voluminöser stimmlicher Festigung. Schon kommt Mephisto, nun als Nachtwächter, mit dem Sterbebett zum gebrochenen Faust, da erscheint diesem die Geliebte mit dem gemeinsamen Kind auf dem Arm. In ihm besteht das Lebenswerk des niemals rastenden Philosophen gebündelt fort. Faust ist erlöst, und der Zyklus des Lebens beginnt eine neue Runde.
Ein reiches Werk
In seiner Inszenierung setzt Keith Warner darauf, die Geschichte selbst zu erzählen, was für eine derart komplexe und nicht ganz stolperfreie Rarität ein adäquater Ansatz ist. Mit ein wenig Feinschliff erfasst er die zugrunde liegende Idee und bringt diese handwerklich kunstgerecht dem Publikum näher. Schade, dass sich nicht einmal zur Premiere genug Menschen auf diese aufregende Reise einlassen wollen, um die Plätze im Saal zu füllen. Die Anwesenden jedoch feierten den Abend mit energischem Applaus und Jubel. Angesichts der seit 1985 allmählich zunehmenden Anzahl von Produktionen ist nur zu hoffen, dass dieses Werk nach fast hundert Jahren endlich endgültig aus der Versenkung gehoben wird.
Kritik von Theo Hoflich
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Doktor Faust: Dichtung für Musik von Ferruccio Busoni
Ort: Sächsische Staatsoper Dresden (Semperoper),
Werke von: Ferruccio Busoni
Mitwirkende: Sächsischer Staatsopernchor Dresden (Chor), Tomás Netopil (Dirigent), Keith Warner (Inszenierung), Sächsische Staatskapelle Dresden (Orchester), Michael Eder (Solist Gesang), Michael König (Solist Gesang), Manuela Uhl (Solist Gesang)
Presseschau mit ausgewählten Pressestimmen:
Ferruccio Busonis "Doktor Faust" an der Semperoper Dresden
(neue musikzeitung, )
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