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Alan Gilbert, © Chris Lee
New York Philharmonic in Essen
Alan Gilbert nimmt Abschied
Das New York Philharmonic ist ein Orchester mit langer Tradition. 1842, also im selben Jahr gegründet wie die Wiener Philharmoniker, gehört es zu den ältesten Orchestern der Welt. Gustav Mahler, Arturo Toscanini, Leopold Stokowski, Leonard Bernstein und Pierre Boulez sind nur einige seiner berühmten Chefdirigenten. Zu den für uns eher ungewohnten Traditionen des Orchesters gehört es, an die besondere Bedeutung des Konzertmeisters zu erinnern. Er betrat erst die Bühne, als das Orchester Platz genommen hatte und wurde ähnlich begrüßt wie Chefdirigent Alan Gilbert, der mit der diesjährigen Europatournee seinen Abschied nimmt. Auf dem Programm in der Essener Philharmonie stand mit Béla Bartóks 'Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta' ein selten zu hörendes Standardwerk der Moderne, mit Mahlers ‚Humoreske‘, der Vierten Sinfonie, eine der beliebtesten Sinfonien des Komponisten und legendären Dirigenten des New York Philharmonic.
Bartóks von Paul Sacher in Auftrag gegebene und von dessen Kammerorchester 1937 uraufgeführte 'Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta' ist ursprünglich eher solistisch besetzt. Die Streicher sind in zwei Gruppen aufgeteilt und als weitere Klangfarben kommen Pauke, Kleine und Große Trommel, Tamtam, Becken, Xylophon, Harfe, Klavier und Celesta hinzu. In Essen sitzen zwei mittelgroße, sinfonische Streicherbesetzungen einander gegenüber, und Alan Gilbert zeigt gleich im ersten Satz, wie homogen im Klang, transparent in der Vielstimmigkeit und ‚barock‘ gleichmäßig eine Fuge strömen, wie vielfältig abgestuft ein Piano trotz großer Besetzung sein kann. Es folgt ein schneller zweiter Satz mit einem auftaktigen Tritonunsthema, konzertierendem Wechsel, harten Pizzicato-Einwürfen und besonderer Farbwirkung, wenn Streicher und Celesta zusammenklingen. Wie modern Bartóks streng durchgeführte, mitunter leicht spröde, ‚künstlich‘ wirkende Komposition auch heute noch ist, zeigt sich im erneut langsam beginnenden, dritten Satz mit seinen ungewöhnlichen Klangreizen. Da dialogisiert gleich zu Beginn ein wiederholter, hoher Xylophonton mit Paukenglissandi. Markant vor allem der mittlere Teil, wo sich atonale Harmonien, schnelle Tremoli, auf- und abwärtsgerichtete Glissandi bei ständig wachsender Lautstärke und Tempo zu chromatischen, flimmernden Geräuschbändern verdichten. Mit einem schnellen, tänzerisch leichten Satz schließt das Werk. In den Pizzicati, synkopischen Rhythmen und modalen Harmonien spürte man die Begeisterung Bartóks für die ungarische Volksmusik.
Nach der Pause dann Mahlers Vierte, 1901 von ihm selbst uraufgeführte Sinfonie mit einem satten Bassfundament aus neun Kontrabässen. Ein ‚Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note‘ nennt Adorno diese letzte der ‚Wunderhorn‘-Sinfonien, Specht spricht von den Stimmungen ‚eines innerlich befreiten Weltflüchtigen‘. Als Text liegt der Sinfonie das Gedicht ‚Der Himmel hängt voller Geigen‘ aus der von Clemens Brentano und Achim von Arnim zusammengestellten Liedsammlung ‚Des Knaben Wunderhorn‘ zugrunde. Schellenmotiv, singende Bässe, karikierende Bläser, melancholische Streicher und liedhafte Celli: Gilbert arbeitete fein die in Tempo, Dynamik und Instrumentation kontrastierenden Stimmungsbilder heraus - schlicht, genau und zurückhaltend, ohne dynamisch zu überzeichnen oder die Ausdrucksgrenzen zu überdehnen.
Im Scherzo, einem kammermusikalisch geprägten, akzentuierten Ländler, kommen gespenstisch skurrile Klangbilder hinzu. Als dann im Variationssatz die Celli bedächtig und im Pianissimo, begleitet von neun gezupften Bässen mit ihrem ruhigen, verklärend gelösten, liedhaften Thema einsetzten, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill im Raum. Mal in Moll, mal zusammenbrechend, mal himmlisch verklärt, mal tänzerisch ausgelassen, am Ende greift der Satz sein Anfangsthema auf und verklingt so ruhig und verhalten wie er begonnen hat. Im Finalsatz ergänzte Christina Landshamers in der Höhe schlanke, ganz zart vibrierende, klangschöne Stimme wunderbar die Farben des Orchesters. ‚Dass alles für Freuden, für Freuden erwacht‘ sind ihre letzten Worte, aber anstelle eines Freudenausbruchs verklang die Musik im auskomponierten Pianissimo. Immer mehr Instrumente setzen aus, bis selbst das Bassostinato der Harfe aufhört zu schlagen.
Kritik von Ursula Decker-Bönniger
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New York Philharmonic: Alan Gilbert
Ort: Philharmonie Essen (Alfried Krupp Saal),
Werke von: Béla Bartók, Gustav Mahler
Mitwirkende: Alan Gilbert (Dirigent), New York Philharmonic Orchestra (Orchester)
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