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Ingo Metzmacher, © Kai Bienert
Die Wiener Philharmoniker in Essen
Klangwunder
Noch klirren die Ohren von diesem aufwühlenden Schlachtengemälde, das Dimitri Schostakowitsch in seiner selten zu hörenden Sinfonie Nr. 11 vor Ohren führt. Unter der Leitung von Ingo Metzmacher präsentierten die Wiener Philharmoniker diese grandiose, erstmals 1957 anlässlich des 40. Jahrestags der russischen Oktoberrevolution aufgeführte Sinfonie bzw. sinfonische Dichtung in der Essener Philharmonie. Vorher verzauberte Joshua Bell das Publikum auf seiner 1713 gefertigten "Gibson ex Huberman"-Stradivari und spielte kraftvoll, virtuos verspielt und poetisch zugleich Tschaikowskys Violinkonzert.
Es gibt viele Gründe, die Dimitri Schostakowitsch dazu veranlasst haben, diese Elfte Sinfonie so und nicht anders zu komponieren. Das Werk ist Erinnerungsort und identitätsstiftend zugleich. Mit dem Titel der Sinfonie 'Das Jahr 1905' erinnert der Komponist an die Anfänge der Russischen Revolution, den sogenannten "Petersburger Blutsonntag", an dem der Zar auf zahllose Arbeiter schießen ließ, die friedlich und unbewaffnet für bessere Arbeitsbedingungen und demokratische Reformen demonstrierten. Aktueller Anlass mag der Herbst 1956 gewesen sein, in dem sowjetische Truppen gewaltsam den ungarischen Volksaufstand niederschlugen. Identitätsstiftend sind auch die vielen damals bekannten Arbeiter- und Revolutionslieder, auf die Schostakowitsch in den Themen seiner Sinfonie anspielt.
Und Metzmacher und die Wiener Philharmoniker führen an diesem Januartag den furchtbaren Ausnahmezustand so bildlich, anschaulich vor Augen, dass auch im 21. Jahrhundert diese Musik aufwühlt, erregt und möglicherweise sogar Widerstand erzeugen könnte. Gleich zu Beginn eine leise, breite und spannungsbewegte statische Klangfläche, auf der sich verschiedene Farben zu einer unheimlichen Präsenz verdichten. Im zweiten Satz wird es weniger abstrakt: Trommelwirbel, marschierende Rhythmen, Beckenschüsse und schreiende Piccoloflöten. Die transparente, ganz vom homogenen Streicherklang getragene Spielkultur der Wiener Philharmoniker scheint dieses Werk in ganz besonderer Weise zum Leben zu erwecken: Einfach großartig, wie Streicher leise wimmern können, Klangbänder nahtlos weitergeführt werden, im Nichts verhauchen, die Schlichtheit der Lieder leise und vibratolos hervorgehoben wird und in all dem ohrenbetäubenden Klangwirbel die musikalische Struktur transparent und hörbar bleibt!
In Tschaikowskys Violinkonzert vor der Pause wird man dagegen gleich beim ersten Akkord, wenn das Orchester das Thema aufgreift, von einem fast räumliche Illusion vermittelnden tiefgründigen - bei Schostakowitsch treten sieben Kontrabässe an, hier sechs -. harmonischen Klangbett umhüllt. Abgesehen von solchen, den Satzverlauf bestimmenden Abschnitten begleitet das Orchester zurückhaltend oder dialogisiert mit dem Solisten Joshua Bell, der von Anfang an mit beherztem Tempo, Leidenschaft und virtuoser Brillanz die Hörer verzückte. Tonläufe, -sprünge, zarte Flageolett-Spitzentöne und Doppelgriffpassagen - Bells Spiel fasziniert nicht nur durch die ganze Breite solistischer Virtuosität, sondern ebenso durch agogisch gestaltete, immer von akzentuierter Leidenschaft motivierte musikalische Empfindsamkeit. Nach einem eher melancholisch stimmenden zweiten Satz folgt direkt anschließend das folkloristisch anmutende Finale. Bells stupende Virtuosität führt hier die ganze Palette an Lebendigkeit und verspielter Ausgelassenheit vor Augen. Gerade dieser letzte Satz mag viele Hörer des 19. Jahrhunderts dazu veranlasst haben, Tschaikowskys einziges Violinkonzert als unschön zu empfinden. Im 21. Jahrhundert hört man es als beglückendes, romantisch-leidenschaftliches Klangwunder.
Kritik von Ursula Decker-Bönniger
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Ingo Metzmacher / Joshua Bell: Wiener Philharmoniker
Ort: Philharmonie Essen (Alfried Krupp Saal),
Werke von: Peter Tschaikowsky, Dimitri Schostakowitsch
Mitwirkende: Ingo Metzmacher (Dirigent), Wiener Philharmoniker (Orchester), Joshua Bell (Solist Instr.)
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