> > > > > 11.11.2016
Dienstag, 28. März 2023

London Philharmonic Orchestra, Copyright: Patrick Harrison

London Philharmonic Orchestra, © Patrick Harrison

Robin Ticciati und Anne-Sophie Mutter in Hamburg

Schockwellen

Wird man für Anton Bruckners Vierte Sinfonie in Es-Dur nach ganz vorne rechts in die dritte Reihe auf Platz 3 gesetzt, fällt der Hör- und Fühleindruck wenig romantisch aus. Die von Robin Ticciati und dem voll besetzten London Philharmonic Orchestra dynamisch eindrucksvoll gestalteten Steigerungswellen erzeugen dann alleine durch ihre physische Kraft und natürlich ihre Lautstärke eine Schockwirkung, die von erhebend bis schreckenerregend reicht, wobei das Schreckenerregende klar überwiegt (und das schreibe ich als Brucknerianer). Man fühlt sich dann so, als wäre man gerade morgens aufgewacht, und das erste, was man liest, ist die Schlagzeile "Donald Trump wird Präsident der USA".

Der gewohnt grandiosen Akustik der Laeiszhalle und Klasse des Traditionsorchesters unter Ticciati war es zu verdanken, dass in der massiven Klangwand, die da vor einem aufragt, ab und zu auch Details auftauchten. Gegen Ende des 'Andante' gab es in den Bratschen etwa einen ungewohnnten Triller, und im Finale wurde Ticciatis Handschrift durch individuelle Gestaltung der Tempogegensätze deutlich. Eine fundierte Kritik ist unter solchen Bedingungen gleichwohl kaum möglich, was schade ist, da Ticciati ja als aufsteigender Stern am Bruckner-Himmel gehandelt wird. Von diesem Platz aus klang es am ehesten so, als hätte Eugen Jochums Bruckner ein Update erhalten. Auch trat das motorische Element plastisch heraus: In den tiefen Streichern konnte man in der Kopfsatzcoda der mechanischen Präzision einer Dampflokomotive lauschen. Insgesamt aber fühlte es sich so an, als säße man direkt vor einem voll aufgedrehten Monolautsprecher. Oder so, als würde man in einem großen Kino ganz an der Seite in der ersten Reihe sitzen: Man ist zwar anwesend, bekommt aber nur begrenzt etwas vom Geschehen mit. Ähnlich ist es, wenn man im Fußballstadion erst zum Anpfiff da ist und das Spiel dann hinter dem Zaun an der Eckfahne verfolgen muss.

Zum Glück gab es da noch Anne-Sophie Mutter, die, wie es sich für eine Solistin gehört, irgendwo ganz weit links neben dem Dirigenten stand. Durch kontrolliertes Dauer-Espressivo, Mini-Glissandi und eine "atemlose" Phrasierung versah sie das e-Moll-Konzert von Felix Mendelssohn mit der erwarteten romantisierenden Klangästhetik. Gleiches galt in noch stärkerem Maße für ihre Dauerzugabe, die Gigue aus der Bach-Partita Nr. 2, die hier eher so klang, als wäre sie von Paganini. Berückende Momente gelangen im Kopfsatz an den leisen Stellen (wenn nicht gerade jemand hineinhustete – warum wird eigentlich immer bei den leisen Stellen gehustet?), die Mutter mit extrem flexibler Farbgebung gestaltete. Keine Frage, dass sie nach wie vor eine der größten Solistinnen unserer Zeit ist. Ihren Individualstil erkennt man unter tausend anderen. Allein die warme Präsenz ihres Spiels versetzt einen als Hörer sofort in einen anderen, wundersam herzerwärmenden Zustand. Interpretatorisch auf der Höhe der Zeit sind mittlerweile jedoch andere, wie etwa eine Alina Ibragimova, die dem scheinbar totgespielten Mendelssohn-Konzert mit ihrer historisch informierten Interpretation ungeahnte neue Seiten abgewinnt. 

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Kritik von Dr. Aron Sayed

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Anne-Sophie Mutter: London Philharmonic Orchestra / Robin Ticciati

Ort: Laeiszhalle,

Werke von: Felix Mendelssohn Bartholdy, Anton Bruckner

Mitwirkende: Robin Ticciati (Dirigent), London Philharmonic Orchestra (Orchester), Anne-Sophie Mutter (Solist Instr.)

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