> > > > > 17.11.2005
Dienstag, 26. September 2023

Lorin Maazel

Erstes internationales Konzert in der Frauenkirche

New-York-Marathon in Dresden

"Rauschender Beifall [...] brandete durch die riesige Halle, und die alten Hasen schüttelten ihre Köpfe und wunderten sich, ob die Menge nun endgültig wahnsinnig geworden sei" kabelte der Kritiker der "New York Times" enthusiasmiert nach Hause; die erste Europa-Tournee des New York Philharmonic unter Arturo Toscanini im Jahr 1930 war ein voller Erfolg geworden. 75 Jahre später ist das Orchester nun erneut unter dem amtierenden Musikdirektor Lorin Maazel für 20 Konzerte in Europa zu Besuch und gastierte an drei aufeinanderfolgenden Tagen auch in der Dresdner Frauenkirche – ein Konzertmarathon par excellence.

Was lange währt, wird endlich gut

Den drei Konzerten vorausgegangen war ein Planungs- und Organisationsparcours, der auch ungewöhnliche Hürden enthielt. "Als ich das erste Mal nach Dresden kam, um die Konzerte zu planen, standen die äußeren Mauern der Kirche zur Hälfte", erzählte der Manager der New Yorker, Zarin Mehta, beim Empfang der Ehrengäste schmunzelnd. "Wir wussten nicht, wo wir das Orchester platzieren, wie die Akustik sein würde, wie viele Zuhörer Platz finden würden..." Der langanhaltende Beifall, die vielen Bravi und stehenden Ovationen bei allen drei (natürlich lange ausverkauften) Konzerten waren sicher auch Balsam für die Organisatoren.

Ein Marathon an Meisterwerken

Die drei Tage vergingen denn tatsächlich wie im Flug; erst im Nachhinein mag man ermessen, welch einschneidende Bedeutung dieser Besuch tatsächlich für die Dresdner Musikkultur hatte. In den hochkarätigen Programmen dominierte zumindest optisch die Uraufführung von ‘Berceuse for Dresden’. Dieses Werk des britischen Komponisten Colin Matthews, in Auftrag gegeben durch die "Friends of Dresden Music Foundation" und im Juli dieses Jahres fertiggestellt, ist bei aller Symbolträchtigkeit musikalisch wenig reizvoll. Es ist in seiner erweiterten, aber immer noch konservativen Tonalität und ohne technische Finessen für den seltenen Musikhörer tolerabel, bietet erfahreneren Konzertbesuchern jedoch wenig Attraktives. Jan Vogler, der mit dem Violoncellopart gewissermaßen den "wortlosen Sänger" des Wiegenliedes gab, hatte hier nichts Weltbewegendes zu tun; dramatische Haltetöne, mehr farb- als formgebend, und einige lyrische Passagen sagten weniger über das Werk aus als die über Tonband eingespielten Glocken der Frauenkirche, deren Obertöne das harmonische Gerüst der Arbeit bilden.

Überhaupt Jan Vogler: mit dem sperrigen Schumann-Cellokonzert op. 129 hatte er am ersten Abend ein sehr schwieriges, dennoch orchestral wie solistisch atmosphärisch kaum so richtig wirkungsvolles Konzert zu schultern – ein kniffliges Unterfangen wird es sicherlich, damit Ende November die New Yorker Kritiker zu begeistern. Vogler spielte durchgängig souverän und relativ weich im Ton (oder war's doch die Akustik?), mit wenigen, gut strukturierten Ausbrüchen aus den rezitativischen Passagen: eigentlich kein typisches Debüt-Futter á la New York. Vielleicht beeindruckt gerade dieses für dortige Verhältnisse ungewöhnlich sublime Understatement.

Sicherlich einen schöpferischen Höhepunkt stellten Mahlers "Kindertotenlieder" für Solostimme und Orchester dar. Die schwedische Altistin Anna Larsson beeindruckte vor allem durch ihre hintergründige, gefühlvolle Interpretation der düsteren Lieder; die zutiefst melancholischen Momente in "Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen", mit einem schmerzvollen Lächeln vorgetragen, gelangen ihr herzergreifend intensiv. Überhaupt, meine ich, wird es nach diesen hochkarätigen Konzerten für die wenigen Dresdner Zuhörer eine Zeit lang recht schwer sein, die "lokale Kost" angemessen zu würdigen. Bisher haben sich die international gefeierten Solisten (und Dirigenten!) noch viel zu selten nach Dresden gewagt; dass das nach diesen Konzerten anders wird, kann man nur sehnlichst erhoffen...

Die schönsten Momente der drei Konzerte fand ich überraschenderweise in einem unauffälligen Werk, das mir sonst immer relativ spröde erschien: Beethovens Ouvertüre zu "Egmont" op. 84. Vielleicht liegen dem Orchester die heroischen Momente der "Siegessymphonie", vielleicht gelang die Melange von noblen Holzbläsern, knackig-trotzigen Hörnern und fein austarierten Streichern hier am besten; grandios jedenfalls diese Eröffnung des zweiten der drei Konzerte, das vielleicht - bei wirklich durchweg allerhöchstem technischen Niveau - das gelungenste war in der dramaturgischen Abstimmung der Werke und ihrer interpretatorischen Realisation. Hier arbeitete Maazel auch wunderbar feinervig mit der Akustik des Raumes, der er etwa in den Fermaten der am nächsten Tag folgenden Dvorak-Sinfonie wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Folgenschwere Irrtümer - der jüngste Akustikstreit und seine Ursachen

Nach den überraschend kontroversen Wortmeldungen zur Akustik der Frauenkirche (s. u.a. die jüngste Kritik von Uwe Schneider) kann mithin festgestellt werden: natürlich hat die Kirche ihre Tücken. Hieß es vor der Fertigstellung, die Kirche habe eine wunderbare, unvergleichlich proportionierte Akustik auch für Orchesterkonzerte besessen, so müssen sich die Schwärmer nun eingestehen, dass ihre Erinnerung mit jedem Jahr, da der Steinhaufen inmitten der rundherum wieder aufblühenden Stadt sich mit Unkraut überzog, ein bisschen goldener geworden zu sein scheint.
Tatsächlich kann die Frauenkirche mit über sechzig Metern (!) lichter Höhe mit den Konzertsälen der heutigen Zeit nicht konkurrieren. Die New Yorker haben jedoch bewiesen, dass die Akustik der Kirche tatsächliche vollständig beherrschbar wird, beschäftigt man sich etwas näher mit den Gegebenheiten. Ist das Orchester nämlich im vorderen Schiff platziert (die Bässe und das Schlagzeug etwas erhöht gen Altar), erreicht die Zuhörer im Schiff durch die fördernde Wölbung des Altarraums und die relativ kompakte Bauweise der Innenkirche ein hoher Anteil an Direktschall. Der Nachhall, der durch die verputzte obere Kuppel in den Kirchenraum zurückfällt, ist zwar mehrere Sekunden lang, aber vom Anteil her eher schwach - eine Art zweite Hallebene entsteht, die die geradlinigen, "diesseitigen" Klänge der Hauptkirche ätherisch überstreicht. Der dadurch erreichte Klangeindruck ist zumindest im Kirchenschiff wirklich atemberaubend rund und voll; die baulich überwölbten Seiten- und das hintere Mittschiff bieten da vielleicht sogar den besten Klangeindruck.

Die nicht zu vernachlässigenden akustischen Probleme der jüngsten Uraufführung des "Te Deum" von Siegfried Matthus (Kurt Masur dirigierte die Dresdner Philharmonie, den Rundfunkchor Berlin und den Philharmonischen Kinderchor - etwa 150 Mitwirkende!) lagen sicherlich in der schwierigen Koordination verschiedener Hallebenen der Kirche - dieses Problem bestand jedoch in den besprochenen Konzerten nicht. Maestro Maazel ging denn auch durchgängig forsch zu Werke, was die Tempi betraf - und die Ergebnisse gaben ihm recht. Die unglaublich rasch musizierte zweite Sinfonie von Robert Schumann etwa war stets klar durchhörbar; Holzbläser, hohe und tiefe Streicher und Blech lieferten klar definierte und stets bestens temperierte Klanganteile, die das Resultat fast klinisch sauber klingen ließen - übrigens eine latente Gefahr des New Yorker Orchesterklangs, jedenfalls, was das europäische Ohr betrifft: permanent schien das Ensemble mit seinen Interpretationen (sei es das Vorspiel zu "Tristan und Isolde", "Tod und Verklärung" von Richard Strauss oder Messiaens "Les Offrandes oubliées") an der sittlichen Grenze zu einer technikverliebten, aber inhaltlich wenig aussagekräftigen Klangwelt entlang zuschrammen. Das "Hausstück" der New Yorker etwa, Dvoraks Sinfonie "Aus der neuen Welt", vernähte Maazel aus funkelnden Themenbausteinen, die durch mannigfache dynamische Tempowechsel miteinander in Kontakt traten; höchst eindrucksvoll und durchaus individuell war das wohl, aber ein Hauch von Manieriertheit lag in den Mittelsätzen wie ein leiser Parfumgeruch über dem Orchester.

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Kritik von Martin Morgenstern



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New York Philharmonic:

Ort: Frauenkirche,

Werke von: Carl Maria von Weber, Colin Matthews, Robert Schumann, Richard Strauss, Ludwig van Beethoven, Gustav Mahler, Olivier Messiaen, Richard Wagner, Antonín Dvorák

Mitwirkende: Lorin Maazel (Dirigent), New York Philharmonic Orchestra (Orchester), Jan Vogler (Solist Instr.)

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Detailinformationen zum Veranstalter Frauenkirche Dresden

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