Die Singakademie feiert mit einer Uraufführung
Jubiläum in Glück
Die Berliner Singakademie feierte in der Berliner Philharmonie ihr fünfzigjähriges Bestehen – und steht doch in der ältesten konstanten Chortradition der Welt. Gefährlich ist die Namensverwechslung, die doch jeweils nur knapp Unterschiedliches bezeichnet. Die 1791 gegründete Sing-Akademie zu Berlin besteht auch heute noch, allerdings zersägte die deutsche Teilung auch diese Berliner Institution, und so kam es 1963 zur Abknospung der Berliner Singakademie im Ostteil der Stadt. Der jüngere Zweig ist, wie auch der ältere, unter die ausgezeichneten Laienchöre Europas zu rechnen, und seine Wertschätzung lässt sich bereits an den Kompositionen ablesen, die für die Singakademie und in ihrem Auftrag entstanden sind. Kann der ältere Zweig auf ältere Größen wie Haydn und Beethoven verweisen, glänzt der jüngere Zweig durch sein Engagement für die Neue Musik. Schrieb 2002 Georg Katzer für die Singakademie, hat nun, zum Jubiläum, Helmut Zapf für sie geschrieben.
Der festlichen Stimmung des Abends entsprachen die 'Liebesliederwalzer' op. 52 von Johannes Brahms, deren schelmisch-heitere Grundstimmung gerade im Rahmen des Jubiläums an jenen Vers von Wilhelm Müller denken ließ: "Ihr preist ja den Champagner, / Je flüchtiger er schäumet: / Was wollt ihr von der Liebe?" Wie Müller ist auch Brahmsens Textdichter, Georg Friedrich Daumer (1800-1875), unter die Vergessenen zu rechnen – aber wie wenig die Texte auf dem Papier den Leser befriedigen mögen, so sehr erfreuen sie doch in der Luft den Hörer. Sabine Fenske und Sigurd Brauns, zu zweit am Klavier, gaben dem Chor die beschwingte Unterlage, Achim Zimmermann die entsprechende Leitung, um die tändelnd verfänglichen Gedichtlein im Walzer zu beleben. Dem Werkcharakter ganz entsprechend entfaltete sich ein geselliges, vollmundiges Musizieren. Das rauschhafte Element der Walzerdrehung, das wohl am Platze war, darf man dabei nicht unterschätzen – als Brahms in den 1860er-Jahren komponierte war der Walzer auch in Wien noch nicht jener staatstragende, formalisierte Tanz, als den man ihn heute beobachten kann. Noch für die Großväter- und Vätergeneration von Brahms, und von Daumer sowieso, war der Walzer vielmehr eine anzügliche, jugendgefährdende Angelegenheit, wie in den Werken etwa Goethes und Schillers immer wieder durchblitzt.
Schiller, und zwar der klassizistisch-antikische Schiller der großen Ideengedichte, stand auch im Zentrum des neuen Werkes von Helmut Zapf, das den Abend eröffnet hatte: Das gewichtige Gedicht 'Das Glück' als Chorfantasie für gemischten Chor, Alt-Solo, Streichquartett, Klavier und Saxophon, ein Auftragswerk der Singakademie. Dieser Text bewegt sich freilich in einer anderen Gewichtsklasse als der Daumer. In elegischen Distichen gehalten, abstrakt im Gedankengang, anspielungsreich in der Faktur: nicht gerade das, was man "sangbar" nennt. Zapf hat den Text, zahlenmagische 66 Verse in 33 Distichen, nicht nur erheblich gekürzt, er hat ihn in seiner Komposition auch (wie man in den kunstinterpretierenden Wissenschaften so gerne und sicherlich uneingedenk der friseurlichen Tradition eines Burchiello sagt) "gegen den Strich gebürstet". Die Textauswahl und Textwiederholungen in Chor und Solo betonten den Gnadenakt der schillerschen Glücksauffassung: Es fällt uns in den Schoß oder eben nicht. In dunklen und tumultarischen Momenten erhielt auch dieses "oder eben nicht" einen Raum, die Dramaturgie des Klanges legte die Dialektik des Glück frei, und analysierte, im übertragenen Sinne, die Tragweite dieses Glücks – in den Händen wankelmütiger griechischer Götter.
Das betraf aber auch die Sprache selbst. Wie sich zu Beginn des Stückes in langer, souveräner Ruhe erst Klänge aus Instrumentalgeräuschen, dann schließlich Worte aus Artikulationsgeräuschen herausschälten, so wurde auch im Verlauf der fünf Sätze das Sprachmaterial immer wieder vom Chor in seine kleinsten Einheiten zerlegt. Mit Buchstabenwiederholungen und Knacklauten, mit Säuseln und Flüstern floss eine ausgiebige Menge Musik in den Text selbst, wurden die Planken der festgefügten Distichen schon ins Schwimmen gebracht, bevor sie als propositionaler Text überhaut erschienen. Das Sprachmaterial wurde in seine Einzelteile zerlegt, und, nun im wahrsten Wortsinne, analysiert.
Dass diese verschiedenen Züge von Analyse nun nicht nur ein Ergebnis erbrachten, sondern auch zum Erlebnis wurden, ist den Musikern und in erster Linie der jungen Mezzosopranistin Isabelle Rejall zu verdanken. Sie bot nicht nur glasklar artikulierten Text und reichte scheinbar mühelos in die tiefen Regionen der Altpartie hinab, sie bot auch dem Chor eine spürbare Orientierungsmarke im Geflecht der komplizierten Partitur. Auch die Musiker gaben weit mehr als nur Begleitung oder Unterlage für den Gesang. Mit dem Sonar Quartett (Susanne Zapf und Wojciech Garbowski, Violine, Nikolaus Schlierf, Viola, und Cosima Gerhardt, Cello) und dem Duo von Nadezhda Zelujkina (Klavier) und Andrey Lakisov (Saxophon) standen zwei eingespielte Ensembles auf der Bühne, die sich in den verschiedenen Spieltechniken der Neuen Musik souverän und sicher bewegen. Als Einheit entstand ein konstanter Klang, wohlig vermischten sich die Obertöne, Lust herrschte an komplexen Geräuschen und feinen Nuancen. Im teilweise schweren rhythmischen Zahnschnitt des Stückes entfaltete sich hier tatsächlich das selten gehörte Musizieren Neuer Musik. Die Klangfarben erhielten Zusammenhang, virtuos und sensibel allen voran Andrey Lakisov, und das arabeske Dirigat von Achim Zimmermann behielt die Kontrolle über den streckenweise bis zu zehn Stimmen ausgefächerten Chor.
"Oben in Jupiters Reich herrscht wie in Amors die Gunst." In diesen Vers lief der dritte Satz des Stückes aus, nach der tänzerischen Heiterkeit und schnippisch didaktischen Deklamation des Chors, wieder in Lautanalyse mündend. Diese Auslegung der kosmischen Mechanik, im Gedicht so grundlegend dargestellt, dass nur mehr griechische Götter die Positionen füllen können, geriet mit der Solistin Isabelle Rejall zu einem verzückt sibyllinischen Rezitativ. Beweglich und klug in der Gestaltung, im ganzen weiten Tonumfang der Partie leicht und nussig, entfesselte sie die genannte Musikalität Neuer Musik und, auch in dieser deutschen Thematik, sängerische piacevolezza. Die junge Mezzosopranistin war unter den Überraschungen und Entdeckungen dieser Uraufführungen die beglückendste. Im vierten Satz, einem Duo von Solostimme und Saxophon, zeigte sich Schillers oft bemühte "Charis" ganz mühelos. Stimme und Saxophon rankten sich umeinander, der Atem als gestaltende Kraft kam zur Geltung, und dieser Satz wie auch das ganze Stück ließen den Text mit infernalischem Fauchen zurückkehren in den vorrationalen Raum des – des was? Des Glücks? Der Seligkeit?
Was Helmut Zapf durch seine Textbearbeitung und -kürzung hervortrieb, war eben der haarfeine Flux zwischen Glück und Seligkeit: Auf den ersten Vers Schillers "Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon / Liebten" antwortete in der Bearbeitung Zapfs als Schlussvers die Beziehung zwischen Muse, Sänger und Hörer: "Dass der Sänger dir singt, was ihn die Muse gelehrt, / Weil der Gott ihn beseelt, so wird er dem Hörer zum Gotte, / Weil er der Glückliche ist, kannst du der Selige sein." Indem das Selige, darin auch der Aspekt der Gnade, die Klammer des Stückes bildete und die Ununterscheidbarkeit von Glück und Seligkeit in den Raum gestellt wurde, wurde mehreres deutlich: einerseits natürlich Zapfs Hintergrund als Kirchenmusiker; andrerseits aber auch die sinnliche Kraft der magnetischen Kette, die vom Überirdischen durch die künstlerischen Akteure bis ins Publikum läuft. Das erschloss sich an diesem Abend unmittelbar, auch wenn es nicht "der Sänger" war, sondern die Sänger und allem voran die Sängerin. In dieser Gestimmtheit reichte der Bogen von der Antike bis in unsere Gegenwart, am Relais Schillers orientiert, denn, wie Hans Blumenberg zusammenfasst: "Götter und Menschen haben im Grunde denselben Daseinssinn – und das ist gut griechische Theologie –, nämlich glücklich zu sein." Vielleicht ist auch das ein Grund, warum man dem Stück und der Solistin Isabelle Rejall mit einer gewissen Frömmigkeit lauschte.
Kritik von Tobias Roth
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Berliner Singakademie Jubiläum: Zapf, Brahms
Ort: Philharmonie (Kammermusiksaal),
Mitwirkende: Berliner Singakademie (Chor)
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